Der verbotene Kuss
werfen, und deshalb packte Snaya Mabs Hemd mit den Fäusten und schwenkte sie langsam über den Rand der Brücke. Aus der Düsternis hörte Mab trägen Atem. Große, flache Zähne knirschten.
Und Snaya ließ sie fallen.
Jedenfalls erschien es ihr einen winzigen Augenblick lang so. Mab hing in der Luft, und sie wusste, im nächsten Moment würde sie auf der Brücke landen, und die Bestien würden sie sich schnappen. Voller Panik ließ sie das Kätzchen los, das nach unten fiel – Mab hingegen nicht. Snaya fing sie an Haar und Kleidung auf und zog sie wieder in Sicherheit.
Das Kätzchen landete auf den Pfoten und taumelte erst einen, dann einen zweiten Schritt vorwärts. Verwundert schaute es mit den großen goldenen Augen zu Mab zurück. Plötzlich schob sich ein langer weißer Arm durch die Geländerpfosten, und das kleine Tier verschwand.
Ein klagendes Miauen, ein Knacken, eine Woge Gestank. Die Bestie fraß, und während sie abgelenkt war, trug Snaya die kleine Mab mit tänzelnden Schritten über die Brücke.
Die Katzen waren der Zoll für das Überqueren.
»Genau wie du müssen auch die Bestien essen«, erklärte Snaya, und obwohl Mab noch sehr klein war, hörte sie den Ekel aus der Stimme der Dienerin heraus und verstand dessen Bedeutung. Druj aßen nicht. Sie nippten gelegentlich einen Schluck Wein aus einem geschnitzten Kelch, aber das Fressen war allein Tieren vorbehalten.
In dieser Nacht erwachte Mab zum ersten Mal in ihrem Leben schreiend aus dem Schlaf, und die Königin kam zu ihr, nahm sie auf den Arm und wiegte sie. Mab weinte, und ihre Ba’thrishva nahm die Gelegenheit beim Schopf und probierte die Tränen auf ihren Wangen. Ihre Zunge war so kalt wie der Rest ihres Körpers, aber das Wiegen beruhigte Mab, und die Königin summte ihr leise ins Ohr. »Izha, Süßeste«, sagte sie. »Sag mir, was geschehen ist.«
Mab erzählte es ihr. Sie zeigte der Königin die Kratzer von der Katze und den Striemen, der von der Lederleine geblieben war, und Snaya wurde bestraft. Die Königin befahl ihr, ein Katzen-Cithra anzunehmen, und ließ sie darin. Sie weigerte sich, sie zurückzuflüstern, und Snaya musste wochenlang als Katze leben und den tastenden Armen der Bestien ausweichen. Manchmal nahm die Königin sie auf den Arm, stellte sich an die Schwelle der Brücke und streichelte ihr das Fell, als überlege sie, Snaya hinaufzuwerfen.
Danach quälte Mab niemand mehr – niemand außer der Königin selbst.
Zunächst war es nur Vernachlässigung, und wie bei allem anderen auch, hatte Mab daran selbst Schuld. Sie wuchs. Sie wurde zu groß für ihren kleinen Eisenkäfig, und das tat ihr nicht einmal leid, und sie wurde zu groß für ihren Platz auf der Hüfte ihrer Ba’thrishva. Tag um Tag schien die Königin sie weniger gebrauchen zu können. Mabs kleines Fellbett wurde aus dem Gemach der Königin in ein einsames Zimmer am Treppenhaus im hinteren Bereich des Turms verlegt. Niemand brachte ihr zu essen – da die Druj nicht aßen, wurden solche Dinge leicht vergessen. Mab musste den Zehnten, der zweimal im Jahr auf den schwarzen Wiesen eingesammelt wurde, eigenhändig aufsuchen. Sie war fünf Jahre alt, als sie lernte, Vorräte zu halten. In diesem ersten Winter, in dem sie auf sich allein gestellt war, ging ihr das Essen aus. Sie wurde dürr, weil sie nur von Moos lebte; und sie aß rohen Fisch, sogar Rinde.
Die Vorräte aus dem Zehnten wurden im Frühjahr erneuert, und danach war sie umsichtiger. Sie schaffte es, zu überleben. Die Jahreszeiten gingen ins Land. Sie verbrachte ihre Tage mit Stickerei und übte auf ihrer Kamancheh. Sie bürstete sich das Haar nun selbst, nähte ihre eigene Kleidung und versuchte, auch Geschenke für ihre Ba’thrishva zu basteln. In einem Winter, in dem die Königin und die Naxturu unterwegs zu ihrer jährlichen Jagd waren, verbrachte sie die Monate damit, eine Robe mit verschlungenen Vögeln und Schmetterlingen in hundert Farben zu verzieren. Aber die Königin trug sie nicht, nicht ein einziges Mal.
Einige Jahre lang während dieses Lebensabschnitts glaubte Mab, sie habe die Hölle entdeckt, doch später, als sie älter war, würde sie sich wehmütig zurück nach dieser Zeit sehnen, denn im Vergleich zu dem, was folgen sollte, war es fast noch das Paradies.
Eines Nachts im Alter von zehn teilte sich ihr Leben sauber in eine Zeit früher und eine Zeit später , und das Hungern, die Vernachlässigung und die Einsamkeit gehörten zum Früher .
Diese Nacht war Vishaptatha.
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