Der verbotene Kuss
sie nicht zur Erholung hier, sondern zum Arbeiten. Und die beste Möglichkeit, um Klatsch zu hören, war dann, wenn die Leute, die man aushorchen wollte, entspannt waren. „Ich glaube, ich werde mich der Gesellschaft anschließen“, erwiderte Felicity.
„Sehr gut, Miss. Ein Lakai wird Sie hinbringen.“
Ungeachtet der Kälte war es ein angenehmer Spaziergang. Die von dem Butler erwähnte Jagdhütte kam bald in Sicht. Hatte Papa auch sie erbaut? Doch nicht er! Er hasste alles Ländliche. Und eine Holzhütte mit Strohdach und abgeschälten Baumstämmen als Türrahmen wäre ganz gegen sein künstlerisches Empfinden gewesen.
Der Lakai ließ Felicity eintreten, und sie fand ein Bild der Wärme und Lebhaftigkeit vor. Drei Herren standen um den beträchtlich großen Kamin und diskutierten die Vorzüge ihrer Waffen, während Lady Worthing und eine andere Dame in einer Ecke des Raums plauderten. Die Bediensteten eilten hin und her und servierten das Essen.
Kaum hatte Lady Worthing Felicity bemerkt, kam sie mit ausgestreckten Armen auf sie zu. „Sie sind doch noch gekommen! Da Sie gestern Abend nicht eingetroffen sind, hatte ich befürchtet, der Schnee würde Sie vom Besuch abhalten.“
Überwältigt durch die huldvolle Begrüßung ergriff Felicity zögernd die Hand der Gastgeberin. „Eine geschäftliche Angelegenheit hat mich in der Stadt aufgehalten, Mylady. Danach hatte ich Angst, nachts bei dem Schnee herzufahren. Heute Morgen war er jedoch zum größten Teil geschmolzen, und daher bin ich gekommen.“
Beim Klang ihrer Stimme hatte einer der Herren sich hastig zu ihr umgedreht und starrte sie an. Viscount St. Clair! Felicity war bestürzt, und ihr Herzschlag beschleunigte sich, als der Blick Seiner Lordschaft ihren traf. Oh, warum musste er hier sein? Und warum musste sein Anblick ihr Furcht und freudiges Bangen einflößen?
In der Enge des Raums wirkte er noch größer und bedrohlicher, als sie ihn in Erinnerung hatte. Und die Flinte, die er lässig in der Hand hielt, trug nicht dazu bei, ihre Ängste zu dämpfen. Er war das Ebenbild eines Jägers, der nicht zögern würde, auf irgendein ihm lästiges Geschöpf zu schießen, das ihm in den Weg kam. Und in Anbetracht des prall gefüllten Jagdsackes zu seinen Füßen gelangte Felicity zu dem Schluss, dass er sehr gut schießen konnte.
Sie zwang sich zur Gelassenheit. Sie war albern. Um Himmels willen! Selbst der arrogante Lord St. Clair konnte sie nicht erschießen. Dennoch wäre ihr sehr viel wohler zu Mute gewesen, hätte er einen Spazierstock statt der Flinte in der Hand gehalten.
Natürlich war die Tatsache, dass er um Lord X' wahre Identität wusste, nicht minder gefährlich. Würde er sie bloßstellen? Oder hatte er sich ihre Drohungen zu Herzen genommen?
„Ich bin entzückt, dass Sie sich so viel Mühe gemacht haben, um hierher zu kommen“, sagte Lady Worthing herzlich, während ihr Blick zwischen Felicity und Lord St. Clair hin und her glitt. „Jetzt sind wir vollzählig.“
Felicity riss den Blick von dem eindrucksvollen Lord St. Clair los. Nur sechs Leute? Und so passend oder unpassend zu Paaren aufgeteilt? Oh, das würde eine Katastrophe werden. „Aber, Lady Worthing . . .“
„Bitte, keine Förmlichkeiten. Wir beide sind fast gleichaltrig. Und wenn Sie so nett sind, wie Ihr Vater gesagt hat, dann werden wir bestimmt Freundinnen werden. Also nennen Sie mich bitte Sara.“
Verblüfft über dieses weitere Entgegenkommen seitens der Gastgeberin stammelte Felicity: „Es . . . ist. . . mir . . . eine Ehre. Aber dann müssen Sie mich bitte auch beim Vornamen nennen. Sind schon alle Gäste eingetroffen?“
„Ja. Heute Abend zum Ball erwarten wir hundert Leute, aber von ihnen bleibt niemand über Nacht. Mr. und Mrs. Kinsley wurden durch einen plötzlich eingetretenen Notfall am Kommen gehindert. Und die Hastings wollten mit Ian herkommen, haben jedoch in letzter Minute abgesagt. “ Nach einem unsicheren Blick auf Lord St. Clair fuhr Lady Worthing fort: „Oh, ich bin unhöflich! Die anderen Herrschaften haben Sie noch nicht kennen gelernt, nicht wahr?“
Da Felicity rasch den Kopf schüttelte, drehte Sara sich zu einem Herrn um, der ebenso groß war wie Lord St. Clair, und stellte ihn als ihren Gatten vor. Felicity begrüßte und betrachtete ihn. Er sollte Freibeuter gewesen sein? Er hatte kurzes Haar und die Haltung eines Gentleman. Vielleicht waren die Gerüchte übertrieben. Felicity musste mehr über ihn herausfinden, solange sie Gast im
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