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Der verbotene Schlüssel

Titel: Der verbotene Schlüssel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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ungewöhnlich kostbarer Bär (goldene Mechanismen sah man normalerweise nur im näheren Umfeld des Königs).
    Im Laufe des Nachmittags waren wir unbemerkt bis zu Oros’ Wall vorgedrungen. Die Wachen am sogenannten Gebeinetor seien nicht besonders aufmerksam, hatte Thaurin erklärt. Es diene eigentlich nur dazu, abgewrackte Mekanisier zum Friedhof der Maschinen zu schaffen. Abgesehen von den »Demonteuren« – mit diesem mekanischen Unwort bezeichnete man in Oros’ Reich die Leichenbestatter – war bisher niemand je von dort zurückgekommen.
    In Blickweite zum Tor suchten wir Deckung in einer Mulde. Beim Betrachten der senkrecht aufragenden Mauer überkam mich großes Unbehagen. Die etwa zehn Fuß breiten und fünfzig Fuß hohen Abschnitte ähnelten auf beklemmende Weise den Wänden im Labyrinth der Zeit. Weniger ihr Farbton schreckte mich – in den Irrgängen glich er dem von Quecksilber, hier eher einem polierten Blutstein –, sondern mehr ihre Beweglichkeit.
    Aus der Nähe betrachtet, rauschten die einzelnen Mauersegmente erschreckend zügig nach unten und wieder hinauf. Dabei folgten sie keiner erkennbaren Ordnung. Fest stand nur, dass man nicht einfach durch die Bresche springen konnte, wenn ein Element seinen niedrigsten Punkt erreicht hatte, denn selbst in diesem Fall ragte es noch unüberwindbar hoch aus dem Boden.
    »Man könnte eine Leine mit einem Enterhaken über die abgesenkte Mauerkrone werfen und sich hochkatapultieren lassen«, murmelte ich halbherzig. Sollte es wirklich keinen anderen Weg nach drinnen geben?
    Lykos verzog die Lefzen zu einem wölfischen Grinsen. »Mir ist gar nicht aufgefallen, dass du Seil und Dreizack dabeihast.«
    »Die Chancen, da rüberzukommen, sind gleich null«, quietschte Nullus.
    »Ist mir klar, dass du dieser Meinung bist«, versetzte der Wolf.
    »Ich habe einen besseren Vorschlag«, sagte Thaurin und stellte eine überraschende Strategie zur Diskussion, die nicht spontan ungeteilte Zustimmung fand.
    »Das ist verrückt!«, urteilte Nullus, der sonst eher ein Optimist war.
    »Zumindest ziemlich riskant«, brummte Lykos. »Wenn sie uns schnappen, landen wir alle da, wo wir gerade hergekommen sind: im Tal der Gebeine.«
    »Gibt es denn eine andere Möglichkeit, an der zappelnden Mauer vorbeizukommen?«, fragte ich.
    Alle, abgesehen von Nullus, schüttelten die Köpfe.
    »Dann machen wir’s, wie Thaurin es vorgeschlagen hat.«
    Der Dreifach Gehörnte Automant lief hinten. In der Rechten hielt er sein Schwert und in der Linken den Speer. Davor marschierte ein aufrechter Ohnekopf. Hierauf folgte der gebeugt dahinschlurfende Menschenjunge. An der Spitze trabte ein Wolf, in dessen Nacken ein kleiner Goldbär ritt. Vor der Toranlage kam die Karawane zum Stehen.
    Die Befestigungen des Kontrollpunkts bestanden aus zwei zinnenbewehrten Türmen und einem dazwischen liegenden Torhaus, das den Durchgang noch einmal um das Doppelte seiner Höhe überragte. Das eigentliche Tor war zweiteilig. Tagsüber versperrte nur ein absenkbares Eisengitter den Weg ins Innere des Mauerrings. Nach Sonnenuntergang wurden zusätzlich hölzerne Türflügel geschlossen.
    Aus einem Fenster über dem Torbogen blickte ein Wachposten herab. Er bestand nur aus einer mechanisierten Ritterrüstung. Hätte man die Außenhülle weggenommen, wäre außer Zahnstangen, Gelenken, Rädern und ein paar Stützstreben nichts übrig geblieben.
    »Wer da?«, rief der Posten.
    »T 147-1508, Hauptautomant der königlichen Leibgarde. Ich bringe einen Gefangenen.«
    »Wie ich sehe, hast du als Verstärkung den Zermalmer dabei. Wer sind die anderen zwei?«
    »Die gehören zu meinem Trupp. Es bedurfte einiger Schliche, das Menschenkind zu überlisten, wenn du verstehst, was ich meine, Kamerad.«
    Die Rüstung wusste nicht wirklich, worauf der Automant anspielte. Glücklicherweise besaßen die Wachapparate am Gebeinetor keinen ausgeprägten Hang zum Argwohn. Der Posten gewahrte den Leibgardisten im Waffenrock, er kannte den Befehl seines Königs – das genügte ihm. Ihm entging sogar, dass die vier Mekanisier Augen im Kopf oder auf der Brust hatten – trotz der geschlossenen Lider wäre das einer aufmerksamen Wachrüstung sicher aufgefallen. Was man nicht für möglich hält, das sieht man auch nicht. Zumal wenn man eine Maschine ist. Und so rief die Rüstung: »Einen Moment!«
    Wenig später hob sich das Eisengitter in die Höhe und die Eskorte durfte mit dem Gefangenen passieren.
    Unweit des Tores stand ein Kastell.

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