Der verbotene Schlüssel
wurde auch Goldstadt genannt – die ansässige Schmuck- und Uhrenindustrie besaß Weltgeltung. Sophias Vater hatte hier, ganz in der Tradition der Familie Kollin, das Goldschmiedehandwerk erlernt. Das war auch der Grund für die jetzige Rückkehr seiner Tochter in die Stadt, die als Tor zum Schwarzwald galt.
In Pforzheim führte man nämlich fort, was Carl Fabergé einst in Sankt Petersburg begann. Der weltbekannte Goldschmied hatte im Zuge der russischen Oktoberrevolution 1918 seine Heimat verlassen müssen. Er starb 1920, wie es hieß, an gebrochenem Herzen und die Tradition der Fabergé-Ostereier wurde mit ihm zu Grabe getragen. Neunundsechzig Jahre danach kam gleichsam die Auferstehung durch die Firma Torvic Layher. Sie stellte unter Fabergés Namen auch wieder Uhren und Schmuck her.
Rasmus Kollin hatte in dieser traditionsreichen Juweliermanufaktur seinen Meisterbrief gemacht. Später schuf er hier einige einzigartige Fabergé-Eier. In seinem Nachlass befanden sich noch immer etwa ein Dutzend Entwürfe, die er nach der Gründung seines eigenen Juwelierimperiums aus reiner Freude am Gestalten kreiert hat – und irgendwie auch, weil es zur Familientradition gehörte.
Mit dieser »Verhandlungsmasse« hatte Sophia das Interesse Doktor Unruhs geweckt. Das war noch von Luzern aus geschehen, in einem Telefongespräch. Sie hatte ihm gesagt, sie wolle einem Schurken, der für den Tod ihrer Eltern verantwortlich sei, das Handwerk legen. Die Geschichte vom Herrscher der Zeit behielt sie für sich. Unruh hätte ihr sowieso nicht geglaubt, auch so kam ihm ihr kühnes Anliegen schon befremdlich vor. Allein mit den Entwürfen ihres Vaters würde sie seine Unterstützung nicht gewinnen können. Es bedurfte noch einiger Überzeugungsarbeit. Deshalb hatten sie und Theo im Gepäck das dazu geeignete »Argument« mitgebracht: das Zwielicht-Ei von Erik Kollin.
Ihren Schlupfwinkel in Nico dei Rossis Wohnung zu verlassen, bedeutete natürlich ein Risiko. Zweifellos war Oros nach wie vor hinter ihnen her. Zur Verwirrung etwaiger Spione hatten Sophia und Theo deshalb ihr Äußeres verändert. Dabei war Sophia die maskenbildnerische Erfahrung aus dem Schultheater zugutegekommen. Beide hatten jetzt schwarzes Haar und einen auffallend dunklen Teint. Aus der Entfernung – oder durch die Objektive von Überwachungskameras – konnte Theo glatt für einen saudischen Prinzen durchgehen. Er trug einen anthrazitfarbenen Anzug, Krawatte und Schnurrbart, sie selbst ein dunkelblaues Kostüm aus engem Rock und Jacke, dazu eine blütenweiße Bluse. Beide sahen mindestens sieben Jahre älter aus. Man hätte sie für den luxusverwöhnten Nachwuchs eines millionenschweren Scheichs auf Einkaufstour durch Europa halten können.
Sophia wusste, für die Bühne muss das Make-up, um vom Publikum als natürlich empfunden zu werden, eher dick aufgetragen werden. Die irritierten Blicke der Fahrgäste im Zug hatten sie später zu dem Schluss kommen lassen, dass es für den Ausflug in ihre Geburtsstadt auch ruhig etwas weniger hätte sein können. Spätestens nach Verlassen des Pforzheimer Bahnhofes schwenkte das Pendel ihrer Selbstwahrnehmung dann wieder in die andere Richtung.
Sie wurden nämlich verfolgt.
Wenigstens hatte Theo das behauptet, weil plötzlich ein kleines orangefarbenes Kehrfahrzeug mit ziemlichem Lärm hinter ihnen herrollte. Das hätte normalerweise keinen Anlass zur Besorgnis geben müssen, wenn die Maschine nicht führerlos gewesen wäre. Theo hatte Sophias Hand ergriffen und war mit ihr davongelaufen. Sie liefen eine Weile kreuz und quer durch die Stadt und kontrollierten bei abrupten Richtungswechseln in Schaufenstern oder Rückspiegeln von Autos, ob sie jemand beschattete. Erst als beide hinreichend sicher waren, weder von Menschen noch von Maschinen beobachtet zu werden, hatten sie sich in die Simmlerstraße 15 zur Firma Torvic Layher begeben.
»Und?«, fragte Sophia ungeduldig. Sie meinte, Doktor Unruh käme sonst nie zu einem Urteil. Seit dem Vorfall am Bahnhof war sie ziemlich angespannt.
»Es ist wunderschön«, sagte er.
Sie tauschte einen kurzen Blick mit Theo und wagte ein leises Aufatmen. »Und es ist echt«, fügte sie nachdrücklich hinzu. Durch die Lupe blickte sie selbstbewusst in das grotesk aufgeblähte Auge des Doktors.
Er schob das Vergrößerungsglas zur Seite, ließ sich mit einer Gesäßhälfte auf den Arbeitstisch nieder und sah sie durchdringend an. Was kommt jetzt?, fragte sie sich.
»Wärst du
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