Der verbotene Schlüssel
unmelodische Stöhnlaute von sich gab und dazu rhythmisch zuckte. Aus seinem Halsausschnitt ragten zwei weiße Kabel, die in seine Ohren verschwanden.
»Der Zappelphilipp?« Sophia lachte auf. »Der ist kein Roboter. Er hört nur Musik mit seinem iPod. Außerdem ist das Wort Mohr politisch unkorrekt.«
»Ein Eipott? Was soll das denn sein?«
»Nur ein Apparat, mit dem man …« Sie verstummte und sah Theo besorgt an.
Er nickte gewichtig. »Bist du dir sicher, dass die Menschen in deiner Welt ihre Geschicke noch selbst lenken oder werden sie längst von Maschinen beherrscht? Wenn dem so wäre, hätte Oros mit ihnen nämlich leichtes Spiel.«
Vom Treppenaufgang hallten Stimmen herab. Ehe Sophia die Worte verstand, erkannte sie den Sprachrhythmus wieder. Stehen bleiben! Sofort stehen bleiben! Hatten die Männer und Frauen vorher noch durcheinandergeschrien, riefen sie jetzt im Chor.
»Da kommt etwas«, sagte Theo.
»Ich hör’s.«
Er stieß sie an und zeigte in den Tunnel, ein schwarzes Geviert, in dem sich das Licht des Bahnhofs nach wenigen Metern verlor. »Von da, meine ich. Der Zugwurm kommt.«
»Besser wir verstecken uns, bis er eingefahren ist.« Sie deutete zu einer quadratischen Säule in der Mitte des Bahnsteigs.
Während die beiden hinter dem blau verfliesten Pfeiler Schutz suchten, starrte ihnen ein etwa vierjähriger Junge mit offenem Mund hinterher. Der Kleine zupfte am Ärmel seiner Mutter, zeigte auf Theo und rief aufgeregt: »Mama, da ist der Räuber Hotzenplotz!«
Die Frau reagierte nicht, weil sie gerade mit dem Handy telefonierte.
Aus dem Tunnel erscholl ein Quietschen. In dem schwarzen Viereck erschienen zwei Lichter. Die Rufe von oben wurden lauter. Sie hallten von beiden Aufgängen herab. Offenbar hatte der Stundenwächter seine Armee erst in Stellung gebracht, bevor er die Falle zuschnappen ließ.
Der Triebwagen rollte in den Bahnhof ein. Als der Zug zum Stehen kam, sah Sophia ein Paar Beine auf der Treppe. Neben dem linken Fuß tanzte ein weißer Blindenstock. Auch Theo hatte Oros gesehen.
»Er kommt allein. Das bedeutet nichts Gutes.«
»Einsteigen bitte!«, hallte es aus den Bahnhofslautsprechern.
»Wer hat da gerufen?«, fragte Theo.
Unter der Decke war schon die Brust des Stundenwächters auszumachen. Zischend öffneten sich direkt vor ihnen Waggontüren. Ein Mann mit einem Akkordeon stieg aus.
»Schnell, bevor er uns sehen kann!«, flüsterte Sophia. Theos Frage überhörte sie geflissentlich – er hätte sich vermutlich strikt geweigert, einer Automatenstimme Folge zu leisten.
Ehe der Kopf des Stundenwächters erschien, waren die zwei in den Waggon gehuscht. Drinnen wechselten sie sofort auf die andere Seite und duckten sich hinter eine Trennwand zwischen dem Einstiegsbereich und den Sitzplätzen. Sophia spähte mit klopfendem Herzen über die Barriere durch die Wagenfenster nach draußen.
»Er kommt näher. Wir müssen uns verstecken«, raunte Theo.
»Der Zug wird gleich weiterfahren.«
»Bist du sicher?«
Sie drehte sich zu ihm um. »Meinst du, Oros kann ihn aufhalten?«
»Er ist der König von Mekanis – natürlich kann er das.«
Sophia spähte erneut durchs Fenster und murmelte: »Solange er nicht genau weiß, dass wir im Zug sind, wird er doch jedes unnötige Aufsehen vermeiden.«
Oros tauchte auf. Er lief über den Bahnsteig, als gäbe es für ihn keinerlei Zeitdruck.
»Zurückbleiben bitte!«, quäkten die Lautsprecher. Ein gequälter Piepton erscholl und die Türen schlossen sich.
Theo spitzte die Ohren. »Da war wieder die Stimme. Sie klingt so … falsch.«
Der Zug ruckte an und nahm rasch Fahrt auf.
Sophia richtete sich erleichtert auf. »Weil es automatische Ansagen sind. Sie kommen aus einer Maschine.« Ihr Blick streifte noch einmal den Bahnsteig.
Oros stand zwischen den Säulen und schien geradewegs zu ihr in den Waggon zu sehen.
Die Frau war etwa Ende siebzig. Sie saß auf der Bank gegenüber, die Einkaufstüten von Aldi auf dem Schoß, und beobachtete verstohlen das junge Paar bei den Türen. Ihre runzelige Hand bewegte sich zum Ohr hinauf, wo sie ein Hörgerät trug.
Dreht sie es lauter, um uns zu belauschen?, fragte sich Sophia. Sie ließ die Alte keinen Moment aus den Augen. Theo hatte recht. Um sie herum wimmelte es von Apparaten. Und von Menschen, die ohne ihre technischen Helferlein aufgeschmissen wären. Lauter Abhängige. Noch nie war ihr das so bewusst geworden. Was hatte Opa Kollin geschrieben? Oros befehlige eine große Schar
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