Der verbotene Schlüssel
der Haustür hing ein bronzener Türklopfer in Gestalt eines Löwenkopfes. Agamemnon griff nach dem schweren Nasenring und ließ ihn gegen die metallene Unterlage krachen. Schon beim dritten Schwungholen flog die Tür auf und gab den Blick auf einen dunklen Durchgang frei, hinter dem ein lichtdurchflutetes Atrium zu erkennen war. Unter dem Türsturz stand ein Sklave in weißer Tunika. Mit aufgerissenen Augen starrte er den Philosophen und dessen wandelnden Krückstock an. Er zitterte, als sähe er nicht einen alten Mann und einen Knaben, sondern eine schreckliche Chimäre mit Löwenhaupt, Ziegenkopf und Schlangenschwanz.
»Mein Herr«, hob Agamemnon an, wobei seine Hand mit großer Geste auf ebenjenen deutete, »der berühmte, höchst ehrenwerte, unermesslich weise …«
»Ich bin Poseidonios von Apameia«, kürzte der die schwülstige Vorstellung ab. Als wolle er seine Hinfälligkeit durch ein forsches Auftreten überspielen, ließ er meine Schulter los und drängte sich zwischen Agamemnon und Geminos’ Diener. »Wir kommen aus Rhodos. Mein Lieblingsschüler Geminos wird sich freuen, mich nach so langer Zeit wiederzusehen. Bitte melde ihm unseren Besuch.«
Der Sklave nickte. Anstatt erst seinem Herren Mitteilung zu machen, gab er den Weg frei, um uns einzulassen.
»Danke«, sagte Poseidonios und trat ins Haus. Agamemnon folgte ihm.
Plötzlich erschienen im Türausschnitt muskulöse Arme, packten den Diener wie auch den Philosophen und rissen sie brutal zur Seite.
»Was …?«, stieß Poseidonios hervor.
»Hyrkan, du falsche Natter«, kreischte Agamemnon und schrie gleich darauf wie am Spieß. Ein dumpfes Geräusch, vermutlich ein Schlag auf den Kopf, ließ ihn verstummen. Aus den Schatten des Durchgangs stürmten zwei bewaffnete Männer ins Licht. Ich traute meinen Augen nicht.
Es waren Obal und sein Leibwächter Mamik. Ihre Uniformen hatten sie gegen Tuniken getauscht.
»Schnell weg hier!«, rief Hyrkan. Ehe ich begreifen konnte, wie mir geschah, hatte er mich von hinten gepackt, in die Luft gehoben und mit mir die Flucht angetreten.
»Stehen bleiben oder wir töten euch!«, brüllte Obal. Die beiden Legionäre folgten uns durch den Vorhof.
Hyrkan scherte sich nicht um die Warnung und rannte weiter. Nach wenigen Schritten ächzte er: »Du bist so schwer, Junge. Kannst du laufen?«
»Natürlich«, antwortete ich. Mein Freund setzte mich ab, griff aber gleich nach meinem Arm, um ihn mit sich zu ziehen. In unserem Rücken dröhnte die Stimme des Zenturios.
»Ihr könnt nicht entkommen. Gebt auf!«
Ehrlich gesagt schätzte ich die Lage ähnlich ein. Vor allem der hünenhafte Mamik klebte uns schon fast an den Fersen. Und was viel schlimmer war: Er hielt einen Speer in der Hand und holte soeben zum Wurf aus.
»Hör nicht auf ihn, Theo, und lauf!«, rief Hyrkan. Er wandte sich ebenfalls um. »Vorsicht!«
Unvermittelt wurde ich zur Seite gerissen, gerade noch rechtzeitig, um dem mit ungeheurer Kraft geschleuderten pilum auszuweichen. Der Wurfspieß zischte dicht an uns vorbei und klapperte über das Steinpflaster.
»Weiter!«, drängte Hyrkan. Am Eingang des Vorhofs klaubte er den Speer vom Boden auf. Endlich erreichten wir die Straße. Weil sie sich nach Norden hin auf mehr als hundert Schritte überblicken ließ, zog er mich nach links, in die Richtung, aus der wir gekommen waren.
Mir sank das Herz. Nirgends war jemand zu sehen, der uns hätte helfen können. Die frühsommerliche Hitze hatte alle Anwohner in die Schatten ihrer Anwesen vertrieben. Abgesehen von Pinien und Steineichen gab es zwischen den prachtvollen Stadthäusern und Palästen am Palatium auch kaum Deckung. Und noch weniger Aussicht auf ein Entkommen.
Mit einem Mal hörte ich das Trappeln von Hufen hinter mir. Gleich darauf tauchte vor uns aus einem nahe gelegenen Torweg ein zweiter Reiter auf. Er saß ohne Sattel auf dem Rücken des Tieres und trug keine Rüstung, sondern nur ein Schwert an der Seite und einen Speer in der Hand.
»War ja klar, dass Obal nichts dem Zufall überlässt«, keuchte Hyrkan. »Jetzt lässt er die Falle zuschnappen.«
Meine Beine wurden schwer, wohl weil mir der Mut schwand. Die Reiter würden uns einkeilen, noch ehe Obal und Mamik uns eingeholt hätten. Das vordere Ross, ein großer Rappe, war schon ganz nahe. Der Mann obenauf holte mit dem Speer aus. Hyrkan ließ mich los. Auch er musste einsehen, dass …
Ehe ich mir meines Irrtums bewusst werden konnte, schleuderte der Seemann den Spieß. Offenbar war
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