Der verbotene Schlüssel
das Deck nach ihm ab. Ich sah nur vage Schemen, Seeleute, die Gegenstände ins Meer warfen, um das Schiff leichter und wieder manövrierbar zu machen. Verzweifelt rüttelte ich Poseidonios am Arm.
»Meister, tut irgendwas!«
Er lachte – es klang allerdings eher wie Husten. »Bei Poseidons Pferden, was stellst du dir vor, kleine Ameise? Bin ich ein Gott?«
Am liebsten hätte ich »Ja!« gerufen, denn seine flammenden Augen strahlten wie in jener Nacht, als er zum ersten Mal den Diskus untersucht hatte. »Ihr habt den Sturm heraufbeschworen, Meister, also könnt Ihr ihn auch besänftigen. Im Buch der Zeit hat bestimmt etwas darüber gestanden.«
Der Wahnsinn wich aus seinem Gesicht. Unsere Blicke trafen sich. »Du hast recht! Die kosmische Formel bezieht alle vier Elemente ein: Feuer, Wasser, Erde und Luft. Gestern habe ich über die Mechanik der Winde nachgedacht. Und heute früh kam ich darauf, wie ich diesen Bereich der Weltenmaschine konstruieren würde …«
»Dann denkt jetzt noch einmal darüber nach«, drängte ich ihn. »Stellt Euch vor, wie dieser Teil arbeitet und den Sturm beruhigt.«
Er runzelte die Stirn. »Wie sprichst du mit deinem Meister? Ich glaube kaum, dass …«
»Bitte, tut es einfach!«, schnitt ich ihm erneut das Wort ab.
Der Philosoph seufzte. Erneut veränderte sich der Ausdruck in seinem Gesicht. Diesmal wechselte er von Zweifel zu tiefer Konzentration. Sein Blick wurde gläsern, so als sei er nach innen gerichtet. Wie in Trance begann er, vor sich hinzumurmeln.
»Ich habe das Tau«, hörte ich unvermittelt die Stimme Hyrkans. So froh ich darüber war, den Freund unter den Lebenden zu finden, so wenig konnte Poseidonios in diesem Moment eine Störung gebrauchen. Ich legte meinen Zeigefinger auf die Lippen. »Schschsch!«
Und plötzlich beruhigte sich der Sturm.
14
A ls der Frühling sich der Schwelle zum Sommer näherte, er reichten wir endlich die Porta Capena. An diesem Stadttor entsprang die Via Appia. Auf der anderen Seite der Servianischen Mauer erwartete uns die mächtigste Stadt der Welt.
Rom.
Hinter uns lag eine vierzehntägige Schaukelei in einem überhitzten Wagen. Poseidonios hatte bis zuletzt darüber geschwiegen, wer ihm beim Bau der Weltenmaschine helfen sollte. Der Vorfall in der Meerenge von Hydruntum hatte ihn misstrauisch gemacht. Er argwöhnte, Hyrkan könne mit Obal unter einer Decke stecken. Immerhin seien sie alte Seeräuberkumpane.
Mich überzeugte der Philosoph nicht. Was hatte ich, der »kleine Barbar aus Germanien«, mir nicht schon alles von Agamemnon anhören müssen! Waschkörbe voller haltloser Verdächtigungen. Vorurteile sind wie Mythen und Legenden: lauter Fantasiegebilde und Lügen, selten ein wahrer Kern.
Wir umrundeten den Palatium. Im Nordwesten dieses Hügels, an dem der Legende nach die Geburtsstunde Roms geschlagen hatte, wohnten Aristokraten, Konsuln, Volkstribune und Redner, Bürger von Rang und Namen also wie Cicero, Crassus und Gaius Octavius. Meine Neugierde wuchs ins Unermessliche. Und so lüftete Poseidonios endlich sein Geheimnis.
Keinen Geringeren als seinen Lieblingsschüler, den großen Geminos von Rhodos, habe er auserwählt. Er sei ein begnadeter Mechaniker.
Ich riss die Augen auf. Geminos war eine Berühmtheit, wenngleich ich ihn eher als Himmelsforscher und Zahlenkünstler kannte.
Der Philosoph lächelte. »Aus deinem Gesichtsausdruck schließe ich, dass meine Wahl so schlecht nicht sein kann. Ich erlaube dir, dabei zu sein, wenn ich mit Geminos rede. Höre und lerne. Aber bitte, Morvi, halte dein vorlautes Mundwerk.«
Poseidonios dirigierte die Wagenlenker – Hyrkan und Agamemnon – zu einem vornehmen Stadthaus. Um es zu betreten, musste man zunächst einen ummauerten Vorhof zwischen Straße und Haustür überqueren. In diesem vestibulum standen Tontöpfe mit Zitronenbäumchen und Statuen aus weißem Carraramarmor.
»Es ist sehr still hier«, brummte Hyrkan, als wir uns dem Gebäude näherten. Er lief ganz hinten. Unruhig suchte sein Blick die Umgebung ab.
»Und das in einer so quirligen Stadt! Herrlich, nicht wahr?«, rief Agamemnon begeistert über die Schulter. Er eilte der Gruppe voran, um für seinen Herrn an die Haustür zu klopfen.
»Bald steht die Sonne im Zenit. Um die Zeit fliehen alle vor der Hitze«, sagte Poseidonios. Er stützte sich auf mich.
Hyrkans Argwohn gefiel mir nicht. Während der Reise hatte der einstige Pirat mehr als einmal ein sicheres Gespür für drohende Gefahren bewiesen.
An
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