Der verbotene Schlüssel
Augenblicke stürmten zwei weitere Bewacher herbei. Poseidonios war inzwischen ins Arbeitszimmer zurückgeschlurft und baute sich an der Seite des Leichnams auf. Als die Kilikier ihren Anführer am Boden liegen sahen, zogen sie die Schwerter.
Poseidonios deutete auf den Toten und klagte: »Eben haben wir uns noch freundlich die Hand geschüttelt und dann fällt er einfach um. Ich glaube, es ist sein Herz.«
Der Ältere von den zwei Männern kniete sich neben Mamik, drückte sein Ohr auf dessen Brust und lauschte. »Ich höre nichts.«
Poseidonios breitete die Arme aus und legte dem Knienden die Rechte in den Nacken. Mit der Linken umfasste er den Schwertarm des anderen und schüttelte mit Jammermiene den Kopf. »Das ist so unendlich furchtbar! Drei junge Herzen, die gerade noch heftig schlagen und gleich darauf stehen bleiben.«
Während der Philosoph die Worte sprach, versteiften sich die zwei Männer. Ihr Tod war gewiss nicht weniger qualvoll als der ihres Kameraden. Mich grauste bei dem, was ich hörte und sah.
Im Verlauf der Seereise hüllte ich mich in Schweigen. Die Angst schnürte mir die Kehle zu. Mein Meister wusste nicht, ob ich die Morde mitangesehen oder wie behauptet geschlafen hatte. Sofern er mich durchschaute, ließ er es sich nicht anmerken. Nur einmal hatte er mich diesbezüglich befragt und sämtliche Lügen geschluckt, ohne nachzuhaken. Mein Gewissen kam damit zurecht. Die Bestie, die in ihm zum Vorschein gekommen war, besaß kein Recht auf die Wahrheit.
Binnen drei Tagen waren alle acht Bewacher tot gewesen. Das kleiner werdende Häuflein hatte bis zuletzt geglaubt, im Haus sei eine tödliche Krankheit ausgebrochen. Irgendwie stimmte das sogar. Nur sträubte ich mich dagegen, die Plage Poseidonios zu nennen. Nicht der Stoiker mit diesem Namen hatte die Morde begangen, sondern etwas anderes, das ihn fast zum Wahnsinn trieb. Deshalb hasste ich meinen Meister auch nicht für seine Taten, obwohl ich mich seit jener grauenvollen Nacht vor ihm fürchtete.
Wir unterbrachen die Reise nach Rom in Rhodos, wo der Philosoph einige längst überfällige Angelegenheiten ordnete. Außerdem versorgte er sich aus seiner Privatbibliothek mit wichtigen Schriften. Danach schifften wir uns auf einer Corbita mit dem Namen der Nymphe Echo ein. Die Winde waren günstig und der Handelssegler kam gut voran.
Ich nutzte die Zeit an Bord , um mich mit dem astronomischen Horolog vertraut zu machen, das Geminos gebaut hatte. Poseidonios wollte den Mechanismus in Rom ausdrücklich von einem Knaben vorführen lassen, damit die potentiellen Käufer sähen, wie kinderleicht die Bedienung sei.
Nordwestlich von Kreta hatte der Meister einen Traum. Am nächsten Morgen fiel mir gleich auf, dass ihn etwas beunruhigte. Es war einer jener Tage, an denen man die tosenden Herbststürme bereits erahnen konnte. Das Schiff stampfte heftig in der unruhigen See. Gerade hatten wir die Insel Aigilia passiert.
»Ich erblicke also die Weltenmaschine«, schilderte Poseidonios mir an Deck seine nächtlichen Visionen. Er klammerte sich mit beiden Händen an der Heckreling fest und starrte aufs Meer hinaus, ohne vom Seegang merklich Notiz zu nehmen. Irgendwie wirkte er auf mich wie in Trance. »Der Mechanismus ist wie ein großes Ei geformt. Im Traum fliege ich mitten in das Wunderwerk hinein. Je tiefer ich darin eindringe, desto mehr Einzelheiten sehe ich. Es verschlägt mir den Atem! Häuser erscheinen, mechanische Lebewesen sogar. Aber alles steht still. Nirgends bewegt sich etwas. Und dann …« Er stockte plötzlich.
»Dann …?«, half ich ihm auf die Sprünge.
Poseidonios blinzelte. »Dann erreiche ich das Zentrum, das Herz des Eies. Dort erblicke ich einen prächtigen Palast. Er ist gekrönt von sieben verschieden großen Halbkugeln, die so aufgehängt sind, dass sie ineinander rotieren können. Obwohl niemand es mir gesagt hat, weiß ich, dass diese Körper Töne von bezaubernder Harmonie erzeugen, wenn man sie in Drehung versetzt. Dann erscheinen sie wie eine einzige, spiegelnde goldene Sphäre. Man vermag darauf die Zukunft oder die Vergangenheit zu erschauen – je nachdem in welche Richtung die Schalen sich drehen. Ich fühle einen unbändigen Drang, die Halbkugeln anzustoßen, doch ich zögere …« Poseidonios’ Stimme schien unvermittelt zu versickern. Wie gebannt starrte er aufs Meer.
»Warum fahrt Ihr nicht fort, Meister?«, fragte ich beklommen.
»Ich kann den Palast der sieben Sphären sehen«, murmelte Poseidonios
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