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Der verbotene Schlüssel

Titel: Der verbotene Schlüssel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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mit fiebrigem Blick.
    Die Sache wurde mir unheimlich. Sprach der Alte noch von seinem nächtlichen Traum? Suchte ihn gerade eine neue Vision heim? Ich hatte keine Lust, von einem Zyklon durch die Luft gewirbelt oder von Hagelschauern zerschmettert zu werden. »Schaut mich an, Meister!«, schrie ich. Nie zuvor war ich ihm gegenüber so laut geworden.
    Er reagierte nicht, murmelte nur wie entrückt: »Wenn ich die Sphären nur einmal anstoßen könnte, um ihre Musik zu hören …«
    »Tut es nicht, Meister!«
    Poseidonios streckte den Arm aus, als sähe er vor sich einen Apfel, den er nur zu pflücken brauchte. Seine dunklen Augen begannen, wie Kohlen zu glimmen. Er tippte die imaginäre Frucht mit dem Zeigefinger an und lächelte. »Ha! Sie bewegt sich. Hörst du, Morvi, wie sie singt?«
    Mir lief es kalt den Rücken herunter. Das Unheimlichste von allem war, dass ich tatsächlich einen seltsamen Klang wahrzunehmen glaubte. Das Geräusch war so fern, so schwach … Nein, ich bildete mir das nur ein. Das Meer war viel zu stürmisch, um etwas anderes als das Rauschen des Windes und die gegen das Schiff anbrandenden Wellen zu hören …
    Ich stutzte, als mir der heftige Seegang bewusst wurde. Hatte die Schilderung des Traumes ihn anschwellen lassen? Gischt sprühte über das Deck. Auf der Wasseroberfläche waren Abermillionen von Blasen zu sehen, so als würden große Tropfen hineinfallen. Aber es regnete nicht. Konnte es sein, dass Poseidonios mit seinen Fantasien ein Seebeben …?
    Eine Stimme riss mich aus den Gedanken. Der Kapitän brüllte Befehle, Seeleute refften die Segel, der Steuermann richtete die Corbita mit dem Bug quer zu den Wogen aus …
    »Das alles habe ich schon einmal erlebt«, murmelte ich fassungslos. Die Echo ähnelte der Calliope wie ein Ei dem anderen. In der Straße von Hydruntum war unser Schiff beinahe gesunken, jetzt gerieten wir erneut in Seenot.
    »Meister, wacht auf! Rettet uns!«, schrie ich.
    Poseidonios reagierte nicht. Als wolle er die Windgötter beschwören, stand er mit ausgebreiteten Armen an der Reling. In seinen Augen flackerte ein unnatürliches Licht und die Züge seines Gesichts verzerrten sich zu einem irren Grinsen. Dem Anschein nach empfand er Freude an dem Höllenritt und tat nicht das Geringste, den entfesselten Elementen Einhalt zu gebieten.
    Unvermittelt schoss neben dem Schiff eine gewaltige Fontäne aus dem Meer, mächtiger als der Pharos von Alexandria. Als habe sie die Wolken durchstoßen, mischte sich gleißendes Sonnenlicht in die schäumende Gischt. Die Echo krängte so heftig, dass sie zu kentern drohte. Männer gingen schreiend über Bord. An Deck festgezurrte Stücke der Ladung rissen sich los und krachten durch die Reling.
    »Tut etwas, Meister!«, brüllte ich abermals.
    Poseidonios wandte mir das Gesicht zu. Es war kaum noch möglich, ihm in die Augen zu blicken, so hell strahlten sie. Als sehe er mich an diesem Morgen zum ersten Mal, sagte er: »Kleine Ameise! Begleitest du mich?«
    Das Schiff richtete sich auf.
    Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich wurde aus der sonderbaren Bemerkung des Alten zwar nicht schlau, doch wenigstens reagierte er auf mich …
    Mein Hoffnungsfunke erlosch jäh, als unversehens das in den Himmel geschleuderte Wasser wie eine Lawine auf die Echo herabstürzte. Mir kam es so vor, als habe mich eine Zyklopenfaust getroffen. Einen stillen Moment lang sah, hörte und fühlte ich nichts …
    Als ich das Bewusstsein wiedererlangte, sank ich gerade ins Meer hinab. Benommen blickte ich himmelwärts, gewahrte ein aufgewühltes Licht, entdeckte hier und da die Silhouetten von Trümmern und Männern …
    Du musst nach oben! Mein Verstand arbeitete wieder. Wo ist der Meister? Ich zog die Beine an und breitete die Arme aus, um mein Herabsinken mit einem kräftigen Schwimmstoß umzukehren …
    Plötzlich packte etwas mein Handgelenk und zog mich nach unten.
    Im ersten Moment glaubte ich, ein Krake habe mich erwischt. Als ich den Fangarm suchte, gewahrte ich einen menschlichen Schemen und zwei leuchtende Punkte. Ich schüttelte panisch den Kopf und deutete mit der freien Hand nach oben. Nicht, Meister! Wir müssen in die andere Richtung. Mit heftigen Beinschlägen kämpfte ich verzweifelt gegen die Schwerkraft an.
    Der Meeresgrund kam immer näher …
    Das Schäumen über uns ließ nach und ich sah den blauen Widerschein sonnendurchfluteten Wassers auf dem Gesicht des Philosophen. Merkwürdigerweise gab es darin keine Todesangst. Nur ein

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