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Der Verehrer

Der Verehrer

Titel: Der Verehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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drahtiger Italiener, der Deutsch fließend, aber mit einem harten Akzent sprach, hatte sich von Früngli dessen Dienstausweis zeigen lassen und war dann sofort bereitwillig mit hinübergekommen. Sigrid Zellmeyer stand wie ein Wachhund vor Millies Wohnungstür und hatte sich offenkundig seit Frünglis Fortgehen um nicht einen Millimeter bewegt. Es war sehr still im Haus, nur aus dem zweiten Stock konnte man das Brummen des Staubsaugers hören, mit dem Sigrids Putzfrau die Teppichböden bearbeitete. »Hier riecht es komisch«,
sagte Malini, während er seine Schlüssel aus den ausgebeulten Hosentaschen hervorkramte.
    »Ich rieche nichts«, sagte Sigrid.
    Wahrscheinlich kannst du gar nicht riechen, dachte Früngli aggressiv, sonst wärst du an deinem eigenen Gestank längst zugrunde gegangen.
    Malini drehte den Schlüssel um und stieß die Tür auf. Fast im gleichen Augenblick zuckte er zurück und wurde kreidebleich.
    »Madonna!« ächzte er.
    »Jetzt rieche ich es auch«, sagte Sigrid. »Lieber Himmel!«
    »Sie bleiben draußen, alle beide«, befahl Früngli und bereute es zum ersten Mal in seinem Leben, daß er nicht dem Wunsch seiner Mutter gefolgt war und sich um eine Anstellung bei der Finanzbehörde bemüht hatte. »Ich gehe da allein hinein.«
    Der süßliche Blutgeruch, den er schon draußen auf dem Gang wahrgenommen hatte, schlug ihm nun geballt und in vielfacher Intensität entgegen. Offenbar waren alle Fenster in der Wohnung geschlossen, nicht aber durch Jalousien beschattet, und die Hitze der letzten Tage hatte eine abgestandene Backofenwärme in allen Räumen entstehen lassen. Darin hing ein Leichengeruch, der jedem Lebewesen, ob Mensch oder Tier, den Atem nehmen mußte. Er war schauerlich, widerlich, ekelerregend und furchtbar. Nie würden Früngli genügend Attribute einfallen, um diesen Höllengestank zu beschreiben. Mit zitternden Fingern kramte er ein Taschentuch hervor, das er sich an die Nase preßte, und vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, daß Malini und Sigrid Zellmeyer wirklich draußen stehenblieben. Dann tappte er zögernd vorwärts, in Millies Küche, in Millies Schlafzimmer und schließlich in Millies Wohnzimmer, in dem das Blut an Wänden,
Schränken, Bildern, Bücherregalen, am Fernseher, an den Gardinen, an der Couchgarnitur und auf dem Fußboden klebte. Überdies fand er dort Millie vor, und ihr Anblick ließ Früngli nach Luft ringen.
    Er atmete aber nur den mörderischen Gestank eines Schlachthofes, dann spurtete er ins Bad und erbrach sich ins Waschbecken, weil er die Toilette nicht mehr erreichte. Aus dem Spiegel starrte ihn sein Gesicht an, getaucht in eine seltsam grüne Farbe, die Augen von Grauen erfüllt.
    Malini hatte die Madonna beschworen, Sigrid den Himmel angerufen.
    Er selbst brachte nur noch ein leises, kraftloses »Jesus!« hervor.
    8
    Am dritten Tag nach dem Überfall lag Paul noch immer in tiefer Bewußtlosigkeit und war nicht vernehmungsfähig. Am Dienstag, wie schon am Montag, fuhr Leona gleich nach Büroschluß ins Krankenhaus und durfte ihren Schwager durch eine Glasscheibe hindurch auf der Intensivstation anschauen. Außer zahllosen Mullverbänden, die ihn in eine Art Mumie verwandelten, und einer Menge bedrohlicher Apparate und Schläuche sah sie kaum etwas von ihm. Er hatte schwerste innere Verletzungen davongetragen, Risse und Quetschungen in verschiedenen Organen, Knochenbrüche und – am schlimmsten – eine Hirnblutung, die die Ärzte zwar unter Kontrolle hatten, von der aber noch immer akute Lebensgefahr ausging. Bis zum Dienstag hatte sich daran nichts geändert.
    »Glauben Sie, er schafft es?« fragte Leona den behandelnden Arzt.

    Dieser war ein trockener, wortkarger Mann, der nicht im mindesten dazu neigte, Optimismus dort zu verbreiten, wo er ihn für unangebracht hielt. Er wiegte einen Moment den Kopf.
    »Vierzig zu sechzig«, meinte er dann.
    Leona krallte sich an einem flüchtigen Hoffnungsschimmer fest.
    »Sie meinen, sechzig Prozent, daß er es schafft?« hakte sie nach.
    Diesmal wiegte er nicht, diesmal schüttelte er den Kopf.
    »Vierzig, daß er es schafft. Sechzig, daß er nicht durchkommt. «
    Es trieb ihr die Tränen in die Augen, diesen stattlichen Mann dort liegen und einen einsamen, hilflosen Kampf gegen den Tod ausfechten zu sehen. Sie konnte nur hier draußen stehen, sich die Nase an der Glasscheibe plattdrücken und nicht das mindeste für ihn tun. Sie konnte beten, hoffen, warten, mehr nicht.
    Die Spurensicherung

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