Der Verehrer
vielleicht hat der Täter geklingelt, und Ihr Schwager hat ihm arglos geöffnet.«
»Und ihn dann durch das ganze Erdgeschoß hindurch bis in die Küche geführt?« fragte Wolfgang zweifelnd. »Wieso sollte er das tun?«
»Wir wissen ja nicht, was der Mann an der Tür ihm gesagt hat. Vielleicht, daß er irgend etwas ablesen will, oder…«
»Am Wochenende?« warf Leona ein. »Das alles muß ja am Samstag nachmittag oder heute, am Sonntag, stattgefunden haben.«
Weissenburger sagte ungeduldig: »Den genauen Verlauf wird uns das Opfer schildern können, wenn es wieder vernehmungsfähig ist. Insofern können wir im Moment nur spekulieren, und das bringt natürlich nicht viel. Es mag ja auch sein, daß der Täter um das Haus herumkam und an die Küchentür klopfte.«
»Aber es müßte doch irgendein Motiv geben«, meinte Leona, »offenbar hat kein Raub stattgefunden.«
»Haben Sie das schon so genau überprüft? All Ihren Schmuck durchgeschaut und so weiter?«
»Nein. Aber, ehrlich gesagt, ist in dieser Hinsicht ohnehin nicht viel bei mir zu holen.«
»Das wußte aber der Täter nicht. Das hier ist eine außerordentlich wohlhabende Gegend«, sagte Weissenburger, der in einer ziemlich schäbigen Wohnung lebte, mit einiger Mißgunst in der Stimme. »Der Täter konnte durchaus erwarten, hier fündig zu werden.«
Leona glaubte das nicht. Sie fand auch nicht, daß der verletzte Paul danach ausgesehen hatte, als habe ihn ein Räuber außer Gefecht gesetzt, um ungestört seiner Tätigkeit nachgehen zu können. Dafür hätte ein Schlag auf den Kopf mit der Hantel gereicht. Pauls grausame Verletzungen am ganzen Körper hatten von anderen Motiven gesprochen: von Haß, von Gewalt um der Gewalt willen.
»Nehmen wir einmal an«, sagte Weissenburger, »Ihre Theorie bezüglich Jablonski stimmte. Welchen Grund hätte er haben sollen, Ihren Schwager krankenhausreif zu schlagen?«
Genau diese Frage hatte sich auch Leona die ganze Zeit über gestellt, ohne eine Antwort zu finden, aber in diesem Moment fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
»Er kannte ihn nicht als meinen Schwager!« rief sie. »Er hatte ihn nie gesehen. Bei dem Familientreffen an Weihnachten war Paul nicht anwesend. Robert muß Paul für einen fremden Mann gehalten haben. Herr Hauptkommissar«, sie beförderte ihn unwillkürlich, ohne es zu bemerken, »er hielt Paul für meinen neuen Liebhaber! Ich bin ganz sicher. Für ihn muß es so ausgesehen haben.«
Sie neigte sich vor. Ihre Stimme wurde leise und rauh.
»Das bedeutet, er hat die ganze Zeit mein Haus beobachtet. Er hat gesehen, wie Paul hier einzog. Und dann ist er gekommen, ihn umzubringen.«
7
Polizeiwachtmeister Früngli von der Polizei Ascona war sehr guter Laune an diesem Tag. Nirgends auf der Welt, fand er, war der April so schön wie am Lago Maggiore. Zwar hatte er von der Welt noch nicht viel gesehen, genaugenommen war er noch nie über die Grenzen der Schweiz hinausgekommen. Aber aufgewachsen war er in der Nähe von Zürich, und er wußte, wie dort der April sein konnte. Nämlich kalt und oftmals noch naß. Hier unten hingegen kam er mit sommerlichen Temperaturen und mit einem fast rauschhaften Blühen ringsum. Schon der März war um Klassen besser als anderswo. Früngli hatte immer darauf hingestrebt, in die italienische Schweiz versetzt zu werden, und zwei Jahre zuvor war es ihm geglückt. Seitdem ging er wie auf Wolken, obwohl ihn natürlich längst der triste Polizeialltag eingeholt hatte. Manchmal befiel ihn auch das Heimweh nach seiner Familie. Aber das verdrängte er dann rasch, denn schließlich war er ein Glückskind, und Glückskinder haben kein Heimweh.
Er blieb vor einem ziemlich scheußlichen Bau in der Via Murragio stehen und verglich die Hausnummer mit der, die er sich auf einem Zettel notiert hatte. Genau richtig!
Er hatte den Auftrag, einen gewissen Robert Jablonski zu überprüfen, der unter dieser Adresse gemeldet war. Eine Anfrage aus Deutschland, von der Polizei Frankfurt. Soweit er informiert war, ging es um einen Fall von schwerer Körperverletzung, das Opfer schwebte noch immer in Lebensgefahr. Früngli sollte allerdings vorläufig nichts weiter tun, als Jablonskis Personalien aufnehmen und ihn »routinemäßig« befragen, wo er sich an dem Wochenende
des fünfundzwanzigsten und sechsundzwanzigsten April aufgehalten hatte.
Er schob seine Mütze zurecht und beugte sich zu den Klingelschildern hinunter. Da war er ja schon: Jablonski. Früngli klingelte und wartete.
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