Der Verehrer
irgendwo etwas essen und einen Wein trinken. Sonntags werde ich sie natürlich zum Frühstück einladen. Ich werde Rühreier machen, Toastbrot, Schinken. Sie soll sich wohl fühlen bei mir.
Es war typisch für Lydia, daß sie den eigentlichen Anlaß für Lisas Besuch schon fast wieder vergessen, zumindest gründlich verdrängt hatte. Ihre private Misere, das Problem des Alleinseins, hatte einen so dominanten Stellenwert in ihrem Denken und Fühlen, daß daneben kaum noch Platz
war für andere Überlegungen. Sie machte sich nicht wirklich klar, daß sie jene Lisa Heldauer nicht kannte und daß keineswegs gewährleistet war, sie würden sich gut verstehen. Sie zog nicht in Erwägung, daß Lisa vielleicht nicht im geringsten der Sinn stand nach Ausgehen, Wein trinken, gemütlichem Frühstück. Lisa kam, weil sich eine Katastrophe in ihrem Leben ereignet hatte. Lydia suchte nach einer Gesellschafterin. Und Robert Jablonski war der einzige gemeinsame Berührungspunkt in ihrer beider Leben.
Von einer trügerischen Vorfreude ergriffen, fühlte sich Lydia also an diesem Sonntag nicht so traurig und allein wie sonst. Sie frühstückte ausgiebig und gönnte sich sogar zum Abschluß einen Piccolo, in seliger Erinnerung an Eva, für die dies zu einem Sonntagmorgen gehört hatte.
Der Sekt machte sie noch munterer, und als sie hinausschaute in den herrlich blühenden Mai, überlegte sie sogar, ob sie nicht zu einem Spaziergang aufbrechen sollte. Für gewöhnlich ging sie am Wochenende nie spazieren, da sie den Anblick von Paaren und Familien in Straßen und Parks nicht ertrug. Heute schien es ihr, als habe sie die Kraft dazu. Sie sah auf die Uhr. Gleich halb eins. Eigentlich könnte sie aufbrechen. Sie mußte sich nur noch anziehen, denn sie war immer noch im Bademantel.
Gerade als sie die Tür ihres Kleiderschranks im Schlafzimmer öffnete, klingelte es.
Unter der Woche kam manchmal der Postbote oder der Stromableser oder ein Hausierer oder ein Zeuge Jehovas. Aber am Sonntag klingelte es nie, und daher erschrak Lydia und zog die Hände von ihrem Kleiderschrank zurück, als sei sie gerade im Begriff gewesen, etwas Unanständiges zu tun.
Wer mochte das sein, um Himmels willen?
Sie schaute an sich hinunter. Konnte sie so die Tür öffnen?
Nichts dabei, entschied sie, ein Bademantel ist korrekt. Etwas peinlich zwar, mittags noch nicht angezogen zu sein, aber am Sonntag durfte man sich das erlauben.
Im Flur strich sie sich noch kurz über die Haare – wie alt ich aussehe, dachte sie – und nahm dann den Hörer der Sprechanlage ab. »Ja, bitte?«
Es folgte keine Antwort, aber ein Scharren vor der Tür verriet ihr, daß ihr Besucher bereits im Haus war. Während sie noch überlegte, wie ihm das geglückt sein mochte, öffnete sie.
Robert Jablonski drückte sich sofort in die Wohnung hinein. Mit ihm kam eine Woge von Gestank – tagealter Schweiß, der unverkennbare Geruch von allzu lange nicht gewaschener Haut und fettigen Haaren.
»Hallo, Lydia«, sagte er und lächelte.
Lydia war nicht einmal so erschrocken, wie sie – das kam ihr später in den Sinn – hätte sein müssen. Es war eher Überraschung, was sie erfüllte, als er plötzlich vor ihr stand. In ihrer Vorstellung war er nie wirklich zu dem Gewaltverbrecher geworden, als den man ihn ihr präsentiert hatte. Sie kannte ihn zu lange, empfand ihn, auch durch Evas Erzählungen, als vertraut. In diesem Moment machte sie sich keineswegs augenblicklich klar, daß sie einen Mann in ihrer Wohnung hatte, gegen den ein Haftbefehl wegen zweifachen Mordes und versuchten Totschlags lief.
»Wie sind Sie denn hereingekommen?« fragte sie erstaunt.
Mit den gespreizten Fingern strich er sich die etwas zu langen, dunklen Haare aus dem Gesicht. »Ich habe mir einen Schlüssel behalten von Eva, damals nach dem Verkauf der Wohnung.«
Ein eigentümliches Frösteln breitete sich in Lydia aus. »Aber warum haben Sie nicht einfach geklingelt?«
Er musterte sie freundlich. »Hätten Sie mich hereingelassen? «
»Das habe ich hier oben ja auch getan.«
»Weil Ihnen keine Zeit zum Überlegen mehr blieb. Ich hätte von der unteren Haustür einen recht weiten Weg zurückzulegen gehabt, und in dieser Zeit wäre Ihnen vielleicht eingefallen, es könnte besser sein, sich vor mir zu verbarrikadieren.«
Lydia schluckte. Sie zog ihren Bademantel am Hals enger zusammen.
»Ich wollte gerade fortgehen. Einen Spaziergang machen«, sagte sie gepreßt.
Warum stank der Kerl so? Er sah aus, als
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