Der Verehrer
habe er im Freien genächtigt. Dazu der verwahrloste, stoppelige Bart, die Ringe unter den Augen, die kranke, bleiche Gesichtsfarbe … niemals vorher hatte sie ihn so erlebt.
»Ihren Spaziergang werden Sie verschieben müssen«, erklärte er, ohne daß sein Lächeln die Wärme, seine Stimme die Freundlichkeit verloren hätten. In Lydia begann sich die Erkenntnis breitzumachen, daß er wirklich gefährlich war und daß sie aufhören sollte, in ihm Evas netten großen Bruder zu sehen.
Was mache ich jetzt, was mache ich jetzt, überlegte sie fieberhaft. Sie hatte den Eindruck, daß er genau bemerkte, wie das Entsetzen in ihr Fuß faßte, und daß er es genoß. Aber er konnte nichts gegen sie haben, oder? Sie hatte ihm nie etwas getan. Und sie war die beste Freundin seiner verstorbenen Schwester gewesen. Warum sollte er ihr etwas antun wollen?
Sie dachte, daß sie vielleicht am besten wegkäme, wenn sie sich arglos und naiv stellte.
»Auf jeden Fall freut es mich, Sie einmal wiederzusehen, Robert.« Ihre Stimme hörte sich merkwürdig an, fand sie, hoffentlich entging Robert dieser Umstand.
»Wir haben uns ja seit … seit Evas Beerdigung nicht mehr gesehen. Sie fehlt mir so. Sie glauben nicht, wie sehr!«
Er hatte die Wohnungstür sehr nachdrücklich hinter sich geschlossen.
»Willst du mich nicht ins Wohnzimmer bitten, Lydia?« fragte er.
Sie hatten einander nie geduzt. Lydia überlegte, ob sie es als gutes oder schlechtes Zeichen werten sollte, daß Robert nun plötzlich damit anfing. Ihr gefiel sein unveränderliches Lächeln nicht. Ihr Frösteln ging in heftiges Frieren über.
»Natürlich. Kommen Sie ins Wohnzimmer«, sagte sie folgsam und wollte ihm den Vortritt lassen, aber er bedeutete ihr mit einer Handbewegung, sie solle vorangehen.
»Nach dir, Lydia!«
Sie hatte den Eindruck, ihr stünden alle Haare zu Berge, als sie vor ihm herging. Ihre Kopfhaut spannte und kribbelte. Plötzlich meinte sie eine aggressive Bewegung hinter sich zu spüren, er hob vielleicht schon das Messer … In Panik fuhr sie herum.
»Was ist denn?« fragte er lächelnd.
Er hielt weder ein Messer in den Händen, noch hatte er sich offenbar hastig bewegt. Obwohl Lydia nach wie vor fror, brach ihr überall am Körper der Schweiß aus.
»Nichts«, wisperte sie.
»Was sollte auch sein?« fragte Robert.
Als sie ins Wohnzimmer trat, erkannte Lydia ihre Chance. Eine winzige Chance nur, aber vielleicht die einzige, die sie überhaupt hatte. Die Glastür, die auf den Balkon hinausführte, stand offen, der warme Wind bauschte die Gardinen. Der Balkon ging zwar nach hinten hinaus, nicht zur Straße, aber vielleicht saßen Nachbarn draußen, die sie hörten, wenn sie hinausrannte und schrie.
Sie machte einen entschlossenen Satz zur Tür hin, schneller, als es ihr irgend jemand zugetraut hätte. Sie erreichte die Tür, aber sie war, trotz allem, nicht schnell genug gewesen. Robert war bei ihr, ehe sie einen Fuß nach draußen setzen, ehe ihre Lippen sich zum Schrei formen konnten. Seine kräftigen Finger umschlossen ihren Hals.
»Einen Laut«, sagte er leise, »nur einen einzigen Laut, und du bist bei deiner geliebten Eva. Hast du das verstanden? «
Sie konnte ihn nur aus weit aufgerissenen Augen anstarren.
»Ob du das verstanden hast?« wiederholte er und schüttelte sie leicht. Seine Hände hielten sie wie in einem Schraubstock.
Sie versuchte zu nicken und gab dabei ein würgendes Geräusch von sich. Zu ihrer Todesangst gesellte sich Übelkeit, die von seinem Gestank herrührte. Ob er sie töten würde, wenn sie ihm über seine verdreckten Sachen kotzte?
Er ließ sie urplötzlich los und stieß sie dabei von sich. Sie stolperte über ihre eigenen Füße und fiel halb über einen Sessel, der im Weg stand. Während sie sich noch aufrichtete und ihren verrutschten Bademantel geradezuziehen versuchte, schloß Robert die Balkontür.
»Du solltest nicht dumm sein, Lydia«, sagte er, »du solltest mich nicht ärgern. Ich befinde mich in einer schwierigen Situation. Ich kann keinen Ärger gebrauchen.«
Sorgfältig zog er die Gardinen zu. Dann bemerkte er den noch nicht abgedeckten Frühstückstisch.
»Ich habe Hunger. Setz dich zu mir, Lydia. Wir wollen etwas essen.«
Zitternd kam sie seiner Aufforderung nach. Sie setzte sich ihm gegenüber und sah zu, wie er sich Butter und
Marmelade auf ein Brötchen strich. Er hielt ihr seine – ihre – Tasse hin.
»Kaffee!«
»Der Kaffee ist kalt inzwischen«, murmelte sie.
»Das macht
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