Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
las die erste Zeile: ›Anfang des Evangeliums Jesu Christi, des Sohnes Gottes.‹
Der Papst trat neben mich. »Wundervoll, nicht wahr?«, flüsterte er und strich mit den Fingern über die Buchstaben. »Das griechische Markus-Evangelium. Vermutlich aus dem dritten oder vierten Jahrhundert. Alessandra d'Ascoli hat es in einer Synagoge in Alexandria gefunden.«
»Es ist sehr kostbar.«
»Ja, es bedeutet mir sehr viel«, bekannte er. »Ein größeres Geschenk hätte mir Lucas Tochter nicht machen können als dieses Symbol der Vergebung und Versöhnung.« Er wollte noch etwas sagen, doch dann besann er sich anders und berührte mit der Hand meine Schulter. »Kommt, Bruder Niketas!«
Ich legte den Codex zurück auf den Nachttisch und folgte ihm zum Kaminfeuer, wo ein Augustinermönch mit einem silbernen Tablett und drei Bechern auf uns wartete.
»Ein köstlicher Tropfen aus Montepulciano?«
»Mein Arzt hat mir verboten, Wein zu trinken«, winkte ich ab.
»Wegen Eures Ohnmachtsanfalles in Ferrara? Mein lieber Frater in Christo! Ich war bestürzt, als Kardinal Cesarini mir davon erzählte ...«
»Es geht mir gut! Der Aufenthalt in San Marco und die langen Gespräche mit Fra Antonino haben mir sehr gutgetan«, versicherte ich ihm, und er seufzte erleichtert. Dann reichte er mir einen Becher mit Zimt gewürzten Zuckerwassers. Er selbst trank niemals Wein.
»Setzen wir uns!«, schlug er vor und wies auf die Sessel vor dem Kamin.
Ein rot getigerter Kater strich mir mit erhobenem Schwanz um die Beine und suchte unter meinem Habit einen warmen Platz für ein Nickerchen. Mit seinen Krallen erhaschte er den wollenen Saum und zog ihn zu sich herunter.
»Monsignor Fantín.« Der Papst wies auf den Kater, der sich, an meine Füße geschmiegt, zusammengerollt hatte. Als ich wegen des Namens schmunzelte, erklärte er: »Die Fratres, die mir aufwarten, haben ihn so genannt. Er stammt aus dem Palazzo meiner Familie in der Nähe des Canal Grande. In der Serenissima gibt es viele Katzen. Ich wünschte ...« Er seufzte mit versonnenem Blick. Offensichtlich empfand er Sehnsucht nach Venedig. Nach einem kurzen Schweigen fragte er: »Nun, wie denkt Ihr über den Primat des römischen Papstes?«
Ich lehnte mich zurück, streckte die Beine dem prasselnden Kaminfeuer entgegen, genoss die wohlige Wärme und den harzigen Duft, die die glühenden Holzscheite verströmten, und trank einen Schluck.
»Wir orthodoxen Christen anerkennen die Vormachtstellung Roms unter den fünf Patriarchaten und den Ehrenvorsitz des Papstes in einer ökumenischen Kirchenversammlung. Doch die römische Kirche hat sich von uns getrennt, als sie aus purem Stolz zur weltlichen Monarchie wurde. Der Primatsanspruch Roms und die Bereitschaft der Päpste, ihre Vision imperialer Alleinherrschaft mit Gewalt durchzusetzen, war einer der Gründe für das Schisma von 1054 und der Entfremdung zwischen dem römischen und griechischen Glauben.«
Eugenius lehnte den Kopf gegen die hohe Rückenlehne seines Sessels und starrte in die Flammen.
»Die römische Kirche ist nicht die Nachfolgerin des Imperium Romanum. Nicht der Papst, sondern der Basileus ist der Rechtsnachfolger der römischen Kaiser. Der Pontifex ist Patriarch, Metropolit und Bischof von Rom - nicht mehr und nicht weniger.«
Er nickte stumm.
»Ich glaube, dass die orthodoxen Patriarchate dem Patriarchen von Rom als ›Primus inter Pares‹ Sondervollmachten zuerkennen können - solange er dabei die ›Pares‹, die ihm Gleichgestellten, nicht vergisst. Und solange er seine Jurisdiktion als Patriarch und seine geistliche und weltliche Macht als Papst nicht auf die gesamte griechisch-römische Kirche ausweiten will. Der römische Papst ist nicht der Vorgesetzte der orthodoxen Metropoliten!«
Eugenius blickte mir in die Augen. »Falls wir das Wunder vollbringen, das scheinbar Unvereinbare zu vereinen, würdet Ihr mir dann als Eurem Papst gehorchen, Bruder Niketas?«
»Ich würde keine Befehle entgegennehmen«, verdeutlichte ich. »Aber den weisen Rat meines Amtskollegen, des Metropoliten von Rom, würde ich wohlwollend in Erwägung ziehen. Nicht, weil er der Papst ist, sondern weil ich den Menschen Gabriel Condulmer sehr schätze.«
»Danke für Eure Aufrichtigkeit«, seufzte er und griff nach seinem Becher.
»Die Bulle Unam Sanctam von 1302 begründet die päpstliche Universalherrschaft mit dem Bekenntnis zur Kirche, außerhalb derer es kein Heil geben kann. Der Text jener Bulle gipfelt in der
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