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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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mondbeschienene Meer sah. Neben den Felsen, wo die Mauer in die Wellen mündete, hockten etwa dreißig Mann zusammengedrängt in einer Motorbarkasse.
    «Also, dann mal runter.» Von einer der uralten Zinnen baumelte ein Seil in die Tiefe. Grant ergriff es, schwang sich nach vorn und ließ sich hinuntergleiten – so schnell, dass er sich die Handteller an dem groben Seil versengte. Zwei Schritte über die schlüpfrigen Felsen, und er sah das Boot direkt unter sich. Noch ein Schritt, dann ein beherzter Sprung, und er landete unsanft im Kielraum. Ganz in der Nähe hörte er den dumpfen Aufprall, als auch der Irgun-Kommandeur ins Boot hechtete. Dann sprang der große Motor an, und Grant wurde zurückgekippt, als die Barkasse auf der ruhigen See an Fahrt gewann. Niemand sagte etwas. Alle Bootsinsassen schienen mit angehaltenem Atem auf die Schüsse zu warten, die die Barkasse zerfetzen würden.
    Doch es blieb still.
    Grant zwängte sich mit auf die Bank, die längs der Bootswand verlief. Nach etwa einer Viertelstunde entzündete einer seiner Gefährten ein Streichholz, und gleich darauf glühten ringsum im Boot Zigaretten, und gedämpfter Jubel machte sich breit. Grant bahnte sich einen Weg ans Heck, wo der Kommandeur saß. «Wo fahren wir hin?»
    «Vor der Küste erwartet uns ein Frachter. Er wird uns die Küste hinauf nach Tyros bringen.» Er breitete die Hände aus. «Von dort aus, wohin Sie wollen.»
    Grant dachte kurz nach. Muirs Besuch hatte ihn auf einen Einfall gebracht – obwohl er nie gedacht hätte, dass er ihn so rasch in die Tat würde umsetzen können. Er nahm einen Zug von seiner Zigarette und pustete den Rauch ins Mondlicht. «Können Sie mich nach Kreta bringen?»

DREI
    Archanes, Kreta. Zwei Wochen später
    Die Einheimischen nannten den Berg «Antlitz des Zeus». Wie eine mächtige, gen Himmel geballte Steinfaust ragte er über dem Dorf und den umliegenden Weinhängen auf. In prähistorischer Zeit hatten die Minoer, die einem Stierkult huldigten, auf seinem Gipfel eine Kultstätte errichtet; Jahrtausende später hatte eine kleine, weißgekalkte Kirche diese Stätte ersetzt, doch noch immer pilgerten die Dörfler alljährlich im August den Berg hinauf, um an dem Heiligtum Opfer darzubringen. Mochten die Götter auch kommen und gehen, an den Sitten der Insel änderte sich wenig.
    Hätte welcher Gott auch immer an diesem Aprilmorgen gegen elf Uhr den Blick gesenkt, hätte er gesehen, wie der klapprige alte Bus auf den Dorfplatz schnaufte und eine Schar Fahrgäste absetzte – hauptsächlich Bauern, die vom Markt zurückkehrten. Viele strebten dem kaphenion zu, um dort bei einem Kaffee ihre Schwätzchen oder Dispute fortzusetzen, ein Fahrgast aber schlug die entgegengesetzte Richtung ein und bog in die schmale Gasse, die hinaufführte zum Fuß des Berges. Niemand schenkte ihm viel Beachtung, obwohl er allen auffiel. Seit damals die Deutschen gekommen waren, hatten sich die Einwohner an das plötzliche Auftauchen von Fremden in ihrem Dorf gewöhnt. Leidvolle Erfahrung hatte sie gelehrt, dass es immer am sichersten war, sie nicht weiter zu beachten.
    Grant marschierte bis zum Rand des Dorfes, wo die Gasse in einen Feldweg mündete, der zwischen Apfelbäumen hindurchführte. Das Gelände stieg steil an, dem Berg entgegen, und genau dort, wo das Nutzland in Geröll und wildes Gras überging, stand ein Haus aus Stein. Hühner scharrten um eine verrostete Traubenpresse im Vorgarten herum, und Bündel noch ungesetzter Rebstöcke lehnten an der Hauswand, die Fensterläden aber waren frisch gestrichen, und aus dem Schornstein stieg eine dünne Rauchfahne auf. An den Aprikosenbäumen seitlich des Hauses zeigte sich das erste frische Grün.
    Grant blieb einen Moment lang stehen und ließ den Anblick auf sich wirken, dann trat er durch das Gartentor und ging leise die Treppe zur Haustür hoch, die sich – wie bei Häusern in griechischen Dörfern üblich – im ersten Stock befand. Er klopfte nicht; stattdessen pfiff er ein paar Takte eines wehmütigen griechischen Marschliedes.
    Der vom Berg her kommende Wind stahl ihm die Töne von den Lippen weg und trug sie davon. Raschelnd fuhren die Böen durch die Wildblumen. Ein loser Fensterladen schlug gegen die Hausmauer. Damit es ihm nicht den Hut vom Kopf wehte, nahm Grant ihn ab und schob ihn sich unter den Arm. Er stammte von einem Basar in Alexandria, wo er ihn drei Tage zuvor in aller Hast besorgt hatte, und leider war er ein wenig zu groß.
    Er wartete noch eine

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