Der vergessene Tempel
Minute und entschied dann, später wiederzukommen. Er wandte sich um und – zuckte zusammen.
Trotz seiner gründlichen militärischen Ausbildung hatte er nicht gehört, wie sie hinter ihm die Treppe hochgekommen war. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid und ein schwarzes Kopftuch. Von hinten hätte man sie wohl für eine jener alten Frauen halten können, die aus keinem griechischen Dorf wegzudenken waren, so knorrig und krumm wie die Olivenbäume und ebenso sehr Teil der Landschaft. Von vorne aber sah man, dass ihr Kleid tailliert war und ihre hübsche Figur zur Geltung brachte und dass die Knöchel unter dem Rocksaum schlank waren. Ihr dunkles Haar unter dem Kopftuch war zurückgebunden, bis auf eine Strähne, die ihr lose über die Wange hing, was die wilde Schönheit ihres Gesichts nur noch mehr zu unterstreichen schien.
«Grant?» Sie verzog unwillig das Gesicht, und ihre dunklen Augen funkelten. «Ich hätte nicht gedacht, dass du noch einmal hier auftauchst. Dass du es wagen würdest.»
Ihre Stimme klang genau so, wie er sie in Erinnerung hatte, und sprach die englischen Worte mit einer Flinkheit aus, die an das Flackern einer Flamme denken ließ. Er setzte seinen Hut wieder auf, um ihn mit gespielter Höflichkeit lüften zu können. «Marina, ich …»
«Ich hätte nur einen Grund, dich wiedersehen zu wollen, nämlich, um dich umzubringen.»
Grant zuckte mit den Schultern. «Dafür ist später noch Zeit. Ich bin hergekommen, um dich zu warnen.»
«Ungefähr so, wie du Alexei gewarnt hast?»
«Ich habe deinen Bruder nicht getötet.» Grant sprach betont langsam, sachlich.
«Nein?» Sie kam nun langsam näher, sichtlich vor Wut bebend, und Grant machte sich auf alles gefasst. Er hatte sie nie unterschätzt. Viele Männer hatten diesen Fehler begangen und es bitterlich bereuen müssen. «Drei Tage nach dem Hinterhalt ist er zu einem Treffen mit dir in der Schlucht bei Impros aufgebrochen. Keiner von euch beiden ist je zurückgekehrt – doch nur einer von euch ist jetzt noch am Leben.»
«Ich schwöre, sein Tod hatte nichts mit mir zu tun.» Was nicht die volle Wahrheit war. Ihm war, als könnte er wieder die bittere Galle schmecken, die sich hinten in seiner Kehle gestaut hatte, während er mit dem Webley in der Schlucht wartete und der Schweiß ihm wie Tränen in den Augen brannte. «Herrgott, er war doch fast wie ein Bruder für mich.»
Er hätte noch so viel mehr sagen können, aber das hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Und er hatte nicht viel Zeit. Er warf einen Blick über die Schulter und sah dann wieder Marina an. «Ich bin hier, um dich zu warnen.» Er wiederholte sich, das war ihm klar. «Erinnerst du dich an das Buch?»
Sie reagierte befremdet. «Wie bitte?»
«Das Buch. Das Notizbuch des Archäologen, das ich dir zur Aufbewahrung gegeben habe. Weißt du noch?»
Eine plötzliche Windböe erfasste ihr Kopftuch und wirbelte es davon. Es segelte über den Garten hinweg, bis es in den Ästen eines Baums an der Mauer hängen blieb. Marinas lange Haare flatterten hinter ihr im Wind, wild und ungezähmt.
«Ich kann mich nicht erinnern.»
«O doch, das kannst du. Zwei Tage nach der Invasion. Ich habe es hergebracht – der Archäologe hatte mich darum gebeten. Du warst bestürzt darüber, dass er umgebracht worden war.»
«Pemberton war ein guter Mensch», sagte Marina leise. «Ein guter Engländer.» Sie starrte Grant wortlos an. Eine Träne schimmerte in ihrem Augenwinkel. Sie würde nicht hinabrollen, aber sie würde sie auch nicht fortwischen. Grant stand einfach nur da und wartete.
Dann traf sie offenbar eine Entscheidung.
«Komm mit rein.»
Das Haus hatte sich kein bisschen verändert: eine Küche, ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer, alles sehr einfach, aber sauber und aufgeräumt. In dem steingemauerten Kamin glomm ein verkohltes Holzscheit vor sich hin, und auf den Fensterbrettern standen Vasen mit Wiesenblumen und getrocknetem Lavendel. Die Wände waren mit Fotografien geschmückt: ein Mann mit einem breitkrempigen Hut, der auf einem Esel saß und sichtlich für die Kamera stillhielt; zwei lachende junge Frauen an einem Flussufer; ein junger Mann in Uniform, ein Wehrpflichtiger offenbar, aus dessen schmalem Gesicht der Entschluss sprach, tapfer auszusehen. Dieses Foto übersah Grant bewusst.
Marina verschwand in die Küche und kam einige Minuten später mit zwei winzigen Tässchen Kaffee und zwei Gläsern Wasser zurück. Außerdem hatte sie sich, wie Grant auffiel,
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