Der Vergessene
Arzt. Er kniete neben einem Mann, der am Boden lag und leise stöhnte. Er blutete im Gesicht und wurde behandelt. Ich sah die umgestürzten Tische, die zerbrochenen Flaschen und Gläser, deren Scherben in den Schnaps- und Bierlachen lagen.
Ein Teil der Kneipe lag im Hellen. Da strahlten die Scheinwerfer auf ein bestimmtes Ziel, das uns noch durch andere Tische und Stühle verborgen blieb.
»Das deutet mir alles auf einen Kampf hin«, flüsterte Suko. »Oder was meinst du?«
»Durchaus möglich. Mal sehen, was uns Tanner mitzuteilen hat.«
Er hatte unser Kommen noch nicht bemerkt und hielt sich dort auf, wo der Scheinwerfer strahlte. An verschiedenen Stellen standen Schilder mit Zahlen. Es waren auch Kreise mit heller Kreide auf den Boden gemalt worden.
Der Arzt hatte uns gesehen. Erst schaute er uns nur kurz entgegen, dann hob er den Kopf etwas weiter an und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Wir kannten uns. Der Mann im weißen Kittel wusste, dass der Fall eine andere Wende nehmen würde, wenn wir kamen. »Ich denke, dass euch der alte Brummbär schon sehnlichst erwartet.«
»Wie ist denn seine Laune?« fragte ich.
»Ich habe Brummbär gesagt.«
»Alles klar.«
Wie auf Kommando hörten wir Tanner fluchen. Wenn er so anfing, dann hielten alle in seiner Umgebung den Mund. Selbst die Zeugen flüsterten nicht mehr. In einem derartigen Zustand konnte ihn eigentlich nur seine Frau stoppen. Uns hatte er das mal so ganz im Vertrauen gesagt.
Ich schlich mich von hinten an ihn heran und sprach in seinen Wortschwall hinein. »Warum versaust du uns eigentlich so oft den wohlverdienten Feierabend, Tanner?«
»Ha!« Nach diesem einen Wort sagte er nichts mehr und fuhr auf dem Absatz herum. Zuerst sah er Suko, dann mich. Sein Gesichtsausdruck zeigte keineswegs die große Erlösung, er blieb brummig, aber die Stimme senkte sich. »Spät kommt ihr…«
»Aber wir sind gekommen«, sagte Suko. »Und fliegen können wir noch nicht, Tanner.«
»Ja, ich weiß.«
Er reichte uns die Hand. In seinem Gesicht arbeitete es. Er sah aus, als wollte er seinen grauen Filz vom Kopf reißen, um ihn sich zwischen die Zähne zu stopfen. »Da liegt der Tote«, erklärte er, »und wie der Mann ums Leben gekommen ist, das will einfach nicht in meinen Schädel hinein. Aber zum Glück gibt es ja euch. Ich sage euch schon jetzt, dass es ein Fall werden kann, an dem ihr euch die Zähne ausbeißen könnt.«
Wir sagten zunächst einmal nichts und schauten uns den Toten an. Es war ein Mann in mittlerem Alter. Er musste verdammt qualvoll gestorben sein, denn sein Gesicht zeigte diesen Ausdruck sehr intensiv.
»Wir sind hier schon so gut wie fertig«, erklärte Tanner. »Geht mal näher an ihn heran und erzählt mir dann, was euch aufgefallen ist. Danach reden wir weiter.«
Man schuf uns Platz, damit wir Tanners Wunsch Folge leisten konnten. Der Tote lag auf dem Rücken, und zunächst fiel uns auf, dass keine Wunde zu sehen war. Kein Kugelloch, kein Messerstich, es gab auch kein Blut, dafür fiel mir etwas anderes auf.
Der Mund war weit geöffnet. Wir sahen auch die Lippen, und die waren ziemlich schwarz. Wie angebrannt wirkten sie oder wie versengt, und diese Schwärze oder dieses Verbrannte setzte sich auch innen in seinem Mund fort.
Ich beugte mich als erster sehr tief über ihn, und ich hatte richtig getippt. Aus dem Mund wehte mir etwas entgegen. Ein ungewöhnlicher Geruch, der mich an verbranntes Fleisch oder zumindest verkohlte organische Stoffe erinnerte. Als wäre der Mann innerlich verbrannt. Es war ein widerlicher Geruch, den ich nur kurz anschnupperte. Danach drehte ich mich weg.
»Was war?« fragte Suko.
»Moment noch.« Ich holte meine kleine Leuchte hervor und schickte den Strahl in den offenen Mund hinein, bis in den Rachen. Dabei hielt ich den Atem an, denn ich wollte den Geruch nicht noch einmal einatmen. Der Strahl wanderte im Mund hin und her, in dem ich keinen Speichel mehr entdeckte. Die Höhle war ausgetrocknet, verkohlt, verbrannt, wie auch immer.
Allmählich überkam mich ein komisches Gefühl. Für mich stand zwar fest, dass dieser Mensch innerlich verbrannt war, aber ich wusste nicht, wie so etwas hatte geschehen können. Hier musste wirklich eine wahnsinnige Kraft am Werk gewesen sein, die Suko und mich sicherlich vor große Probleme stellen würde.
Ich richtete mich auf. Kommentarlos übergab ich Suko die Leuchte, der den Toten ebenso untersuchte wie ich. Die Mitarbeiter der Mordkommission umstanden uns
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