Der Vergessene
einer knappen Bewegung nach rechts, es pendelte auf die Mitte zu, und zugleich riss ich die beiden Hemdhälften auseinander. Jetzt lag es frei!
Kamuel sah es. Und ich erlebte, dass auch jemand wie er noch überrascht werden konnte. Er spreizte die Arme ab, tat mit den Händen das gleiche und ich sah, als ich an mir herabschaute, wie das Kreuz leicht zu strahlen begann…
Mit einem schnellen Schritt trat Kamuel zurück. Er atmete, nein er fauchte, denn das Feuer schoss messerlang aus seinem Mund hervor und zuckte vor den Lippen. Er schüttelte den Kopf, er fuhr dabei mit seinen Händen durch das Gesicht und hatte Mühe, seine Worte zu sammeln.
Ein Mensch hätte möglicherweise geschwitzt, bei ihm war es nicht der Fall. Er schüttelte nur den Kopf und flüsterte: »Wer bist du?«
»Ich heiße Sinclair, John Sinclair…«
Der Name sagte ihm nichts. Es war ihm anzusehen, wie er krampfhaft überlegte. Schließlich war er zu einer Antwort bereit. »Aber das ist nicht alles - oder? Du… du… bist nicht einfach nur Sinclair, da steckt mehr dahinter.«
»Warum?«
»Das Kreuz…«
»Es stört dich?«
»Nein. Es ist nur… ich… ich… spüre es. Ich kenne es wohl«, gab er stockend zu. »Es ist sehr alt, nicht wahr? Mehr als tausend Jahre. Ja, so muss es sein.«
»Richtig, Kamuel. Jemand, der früher als ein Prophet bezeichnet wurde, hat es erschaffen. Während sich sein Volk in der babylonischen Gefangenschaft befand, hatte er die Weitsicht, zu erkennen, was noch eintreten würde. Er wusste, dass ein Kreuz in der Zukunft eine große Rolle spielen würde. Hesekiel war ein großer Seher, und er wollte etwas hinterlassen.«
»Warum hast du es erhalten?«
»Weil ich der Sohn des Lichts bin.« Ich nickte ihm zu. »Ja, so hat man mich genannt.«
»Nein, du bist kein Lichtwesen. Das sind wir, das waren wir oder sind wir noch immer…«
»Ihr seid es auch. Ich kenne euch. Die Erzengel haben auf meinem Kreuz ihre Zeichen hinterlassen. Sie haben es praktisch geweiht und Hesekiel damit zur Seite gestanden. Jetzt gehört es mir. Ich denke, dass du dir den falschen Mann ausgesucht hast.«
Er antwortete mir nicht und sah aus, als müsste er über meine Worte nachdenken. Kamuel war durcheinander. Er musste die Gedanken ordnen. Bisher hatte er sich nur auf der Siegerstraße gesehen. Er war ein Großer und Mächtiger. Nun musste er erkennen, dass jemand existierte, der ebenfalls mächtig war. Allerdings auf eine andere Art und Weise.
Und er wich vor mir zurück. Vielleicht auch vor dem Kreuz, das er noch immer misstrauisch betrachtete. Auf mich wirkte der große Mann wie ein übernervöser Mensch, der auf irgend etwas wartete und dabei nicht ruhig sein konnte. Sonst wäre er nicht hin und her gegangen. In seinem Gang lag etwas Gespanntes, Raubtierhaftes. Er schaute sich dabei um, und er gab mir Gelegenheit, einen Blick auf Suko zu werfen.
Mein Freund hatte seine Haltung nicht verändern können. Nach wie vor war er bewusstlos. Dieser Schlag hatte ihn verdammt hart erwischt. Es war nur zu hoffen, dass Suko keinen Schaden davongetragen hatte.
Kamuel fuhr wieder herum. Er starrte mich an. Uns trennten jetzt einige Meter. Sein Blick war wieder starr geworden. Die Augen glichen kalten Kugeln, aber durch seinen Mund huschte das Feuer. Dann schüttelte er den Kopf. »Es ist vielleicht sogar gut«, sagte er, »dass wir uns hier getroffen haben.« Ein Lachen drang aus seinem Mund. »Ich habe einen Gegner auf dieser Welt, und ich denke, dass wir es jetzt ausfechten sollten. Hier in diesem Haus.« Er lachte mich an. Zugleich schimmerte es in seinen Augen. So etwas wie ein Wille zum Sieg war darin zu erkennen.
Einer wie er durfte nicht warten. Er musste seinen Gegner aus dem Weg schaffen. Das Kreuz stand nicht auf seiner Seite, auch wenn ich keine Erwärmung spürte. Seine Kräfte hatte ich nicht vergessen. Sie kochten im Innern der Gestalt und wurden noch zurückgehalten.
Plötzlich trat er vor. Einen langen Schritt. Er riss den Mund auf, als wollte er mich jetzt schon küssen. Aus der Öffnung schossen die Flammen, und ich wollte die Formel sprechen.
Nein, das schaffte ich nicht mehr. Plötzlich flog etwas auf mich zu. Er hatte es mit der rechten Hand gepackt. Es war eine Blumenvase, die er zielsicher gegen meinen Kopf schleuderte.
Dass sie nicht traf, lag daran, dass ich mich so schnell geduckt hatte.
Die Vase wischte an mir vorbei. Sie prallte gegen die Wand, aber die Aktion hatte mich auch stumm gemacht. Ich war nicht mehr
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