Der Vergessene
aber er kannte Kamuel nicht, dieses Geschöpf, das aus einer uralten Zeit stammte und jetzt versuchte, etwas zu richten, was nicht sein durfte. Es hatte sich vor den Karren anderer spannen lassen.
Kamuel hatte Sinclair gepackt. Er war ihm so nahe. Sinclair steckte in der Klammer.
Durch die Gestalt des vor dem Fenster Schwebenden huschte es wie ein Stromstoß. Er lud sich auf. Andere Kräfte übernahmen seinen Körper. Die fremden uralten Magien des Lichts übernahmen ihn, und er hörte auch den einen, wichtigen Satz.
»Der Kuss des Engels!« keuchte Kamuel.
Genau da griff der Besucher ein. Er schrie und wandelte diesen Schrei in ein einziges Wort um. »Nein!«
Die Lippen des Kamuel waren nahe, so verdammt nahe, und in der folgenden Sekunde würden sie sich auf meinen Mund pressen und mich damit zerstören.
Es kam anders. Damit hätte ich beim besten Willen und all meinem Optimismus nicht gerechnet. Dass ein einziges Wort in der Lage war, eine derartige Reaktion auszulösen. Der Engel hielt mich noch fest, aber sein Griff veränderte sich. Er wuchtete mich zur Seite, das feuerrote Loch verschwand aus meinem Blickfeld und zugleich drehte sich Kamuel herum.
Ich torkelte durch die Wucht des Stoßes zurück, Halt fand ich nicht, so landete ich mit meinem Hinterteil zuerst auf den elektronischen Geräten.
Das erlebte ich nur wie nebenbei, denn andere Dinge waren wichtiger.
Ich wollte den eigenen Augen nicht trauen. Aber es war kein Schattenspiel, was hier im Halbdunkel des Zimmers ablief. Es war die Realität, mit der auch Kamuel konfrontiert worden war.
In Gestalt eines Jungen stand sie vor dem offenen Fenster. Nein, das war falsch, sie schwebte davor, denn nichts gab ihr Halt.
Der Junge. Ich kannte ihn. Aber ich hatte ihn lange nicht mehr gesehen. Es war Elohim. Sein Alter wusste ich nicht. Wahrscheinlich war er uralt, aber er sah aus wie zwölf. Er war kein normaler Mensch, auch wenn er so aussah. Geboren hatte ihn Lilith, die erste Hure des Himmels. Sein Vater war Raniel, ein Engel, der sich auch der Gerechte nannte. Von beiden Elternteilen hatte Elohim etwas mitbekommen.
Kräfte, die über denen eines Menschen lagen.
Gewaltige Energien steckten in seinem Körper, und es war fraglich, ob er sie jetzt schon steuern konnte. Falls bei ihm so etwas wie eine Psyche vorhanden war, musste er ein Zwitter sein. Auf der einen Seite das absolut Böse, auf der anderen der Sinn für Gerechtigkeit, den sein Vater Raniel allerdings anders auslegte als ich.
Elohim war nicht groß, er wirkte auch nicht besonders stark, auch wenig rauhbeinig oder jungenhaft. Sein helles Gesicht besaß mädchenhafte Züge. Dazu trugen auch die vollen Lippen und das halblange dunkle Haar bei.
Kamuel hatte sich wieder gefangen. Er war einige Schritte zur Seite gegangen. Mir wandte er jetzt sein Profil zu. Noch immer stand sein Mund offen, und von der Seite her sah ich das Feuer darin, dessen Widerschein auch vor den Lippen tanzte.
Beide starrten sich an. Ich hatte mit einem Blick erkannt, dass sich hier keine Freunde gegenüberstanden. Sie waren Feinde. Keiner würde dem anderen eine Chance geben wollen. Jeder war nur noch darauf erpicht, zu gewinnen.
Kamuel wirkte in seiner Haltung wie jemand, der jeden Moment losstarten wollte, sich aber noch zurückhielt. Mich hatte er vergessen.
Ich hätte jetzt die Chance gehabt, das Kreuz zu aktivieren, war jedoch im Moment einfach zu gespannt, wie es weitergehen würde. Es musste zu einer Entscheidung zwischen ihnen kommen. Elohim war nicht grundlos erschienen, das stand für mich fest.
»Nein, nicht du…«
Diese Worte waren das Startzeichen für Kamuel. Er jagte auf den Jungen zu, um ihn aus dem Weg zu räumen. Dank seiner Kraft hätte er ihn mit einem Schlag zerstören können. Ich bekam Angst um Elohim und wollte eingreifen, aber der Engel lief nicht gegen den Jungen, sondern direkt hinein in die hellen Blitze, die ihm entgegenstrahlten.
Elohim hatte sie ihm geschickt. Aus seinen Fingern waren sie hervorgesprüht und hatten den Angreifer voll erwischt. Ob er sich gegen sie gestemmt hatte, sah ich nicht. Er wurde nur gestoppt, und das helle Feuer umtanzte ihn wie ein großer zweiter Mantel.
Er war in die Knie gesackt. Seine Hände stießen in die Luft. Mit den Fäusten schlug er auf unsichtbare Feinde ein, ohne sie jedoch zu treffen.
Das Gesicht war auf eine schreckliche Art und Weise verzerrt. Es zeigte den Ausdruck einer wahnsinnigen Anstrengung, aber er kam gegen die Kraft des Jungen
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