Der Vergessene
nicht an.
Der Engel musste zurück. Er ging dabei langsam, sehr langsam, noch immer gebückt, und er knickte jedesmal ein, wenn seine Füße mit dem Boden in Kontakt kamen. Er sackte immer tiefer. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann er auf den Rücken fiel, Das sah auch Elohim so, denn er stieß sich vom Fenster her ab.
Zumindest sah es so aus, und wenig später schwebte der Junge in das Zimmer hinein. Die Arme ausgebreitet. Die Hände gespreizt. So schickte er dem Engel seine Blitze entgegen, um ihn so klein wie möglich zu halten. Das Licht traf den Körper, aber auch Kamuel zeigte, dass er nicht einfach zu besiegen war.
Ein uriger Schrei drang aus seinem Mund. Er schwang sich in die Höhe. Das im Nacken festgebundene Haar hatte sich gelöst und flatterte jetzt um seinen Kopf. Er wuchtete den mächtigen Körper zurück.
Die Tür stand noch offen. Er tobte in den Flur hinein. Ich hörte, wie die Wohnungstür aufgerissen wurde. Der Todesengel floh…
Das war für mich die Gelegenheit, zu starten. Ich wollte rennen, laufen, was auch immer, und merkte in diesem Moment, dass ich nicht aus Holz war. Die Treffer und Schläge hatten mich mitgenommen. Ich fühlte mich wie von einem starken Muskelkater durchzogen und kam nicht so schnell weg, wie ich es mir gewünscht hätte. Zudem stand mir plötzlich Elohim im Weg. Er stoppte mich, indem er mir beide Hände entgegenstreckte. »Nein, John, nicht. Du bist zu schwach, ich spüre es.«
Es war wirklich nicht optimal, so etwas aus dem Mund eines Jungen zu hören. Erstens war er kein normaler Junge, und zweitens hatte er recht mit seiner Bemerkung.
»Soll er entkommen?«
Elohim schüttelte den Kopf. »Nein, er soll nicht. Ich werde mich um ihn kümmern.« Zu einer weiteren Frage ließ er mich nicht kommen. Mit einer schnellen Bewegung schwang er auf der Stelle herum und ging oder schwebte zurück zum offenen Fenster.
Er war schnell, er war nicht zu hören, er glitt wie ein Schatten hindurch und war meinen Blicken entschwunden. Ich näherte mich dem Fenster so rasch wie möglich, was verdammt nicht leicht war, denn auch meine Beine hatten etwas mitbekommen.
Aber ich packte es. Der Blick nach draußen. Ich sah Elohim. Er hatte bereits die Straße erreicht und den Gehsteig überschwebt. Dort wartete er auf seinen Feind, der das Haus sicherlich schon verlassen hatte.
Kamuel ließ sich nicht blicken. Möglicherweise steckte er zwischen den Sträuchern des Vorgartens. Auch ich entdeckte ihn nicht, als ich mich nach vorn beugte. Möglicherweise lag er auf dem Boden und verschmolz mit dessen Schatten. Aber er war da. Und er hatte uns bei seiner Flucht genarrt. Er war nicht nach unten, sondern nach oben gelaufen und hatte, wie auch immer, das Dach erreicht.
Ich selbst sah ihn nicht, sondern entnahm es Elohims Reaktion. Er schaute ruckartig in die Höhe, doch nicht um sich den dunklen Himmel anzuschauen.
Unter diesem Gewölbe glitt die Gestalt wie ein mächtiger Vogel hinweg. Es war wie im Märchen oder wie im Kino. Er schwebte, aber er lag nicht flach, sondern sah aus, als hätte er sich vom Dach des Hauses abgestemmt, um ein Dach auf der gegenüberliegenden Seite zu erreichen. Dort landete er. Direkt auf dem First fanden seine Füße Halt.
Er reckte den Arm hoch in die Luft, riss dabei sein Maul weit auf, so dass Elohim und ich den feurigen Ausschnitt sahen.
Dann drehte er sich um. Der nächste Sprung. Die Kraft trieb ihn in die Höhe. Einer wie er übersprang auch die andere Seite des Dachs locker und würde für mich unerreichbar irgendwo landen.
Auch der Junge wollte ihn nicht mehr verfolgen. Er schaute zu mir hoch, hob die Schultern und kam dann langsam wieder auf das Haus zu.
Ich hatte Glück. Ich hatte überlebt, allerdings nicht durch mein eigenes Zutun. Trotzdem war ich froh, drehte mich um und ging wieder zurück in das Zimmer…
Suko lag nicht mehr dort, wo er gelegen hatte. Er war etwas zur Seite gerutscht und hatte es geschafft, sich so weit hochzustemmen, dass er in einen Sessel fallen konnte. Dort lag er mehr als er saß, wie auspumpt und leise vor sich hin stöhnend. Selten hatte ich ihn so kaputt gesehen.
Durch den Kampf waren zwei der drei Strahler in Mitleidenschaft gezogen worden. Es brannte nur noch einer. Und sein Licht ließ den Schatten die Oberhand.
Ich versuchte, locker zu sein. »Schön, dass du noch lebst, Alter.«
»Danke, das gebe ich zurück.«
Ich setzte mich auf die Tischplatte. Ich tastete mich dabei ab, von Suko beobachtet.
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