Der verletzte Mensch (German Edition)
Reifeprüfung als auch ein Hochschulstudium schaffen. Diese Schüler scheitern aber häufig schon früh an der Fließbandabfertigung in unserem Schulsystem. Sie leiden enorm, weil man ihnen sagt, dass sie zu dumm für die Schule sind. Anstatt die entsprechenden Richtlinien der Unterrichtsbehörden zur fairen Beurteilung von legasthenischen Kindern anzuwenden, werden Eltern mit Sätzen wie „Wenn ich das Wort Legasthenie nur höre, dann habe ich schon die Nase voll“ abgeschmettert. Man gibt oft hochintelligenten und kreativen Kindern das Gefühl, zu versagen. Sie verlieren die Freude an der Schule und ihre natürlichen Stärken werden erst gar nicht erkannt. Es ist eine Schande, mit welcher Gleichgültigkeit legasthenische Kinder in unseren Schulen ausgegrenzt werden.
Schulbildung ist auch Herzensbildung
„Das Wichtigste für eine gute Schule ist, die richtigen Lehrer auszuwählen. Genauso wichtig ist aber die Klassengemeinschaft insgesamt. Mir haben meine zwei Jahre in der damaligen Neulandschule ungemein geholfen, bevor dann die Nazis kamen. Das Großartige war, dass wir eine Gemeinschaft waren, dass wir einander ungemein verbunden waren. Natürlich hat die große Religiosität, die in der Schule spürbar war, sehr geholfen, ich war damals zwischen zehn und zwölf und daher auch sehr empfänglich dafür. Auch der kulturelle Rahmen des gemeinsamen Singens oder der Gedichte war tragend. Ich zehre heute noch von dem spirituellen und kulturellen Fundament, das in diesen zwei Jahren meines Lebens gelegt wurde“, erinnert sich David Steindl-Rast an seine Schulzeit.
Eine gute Lehrerin und eine tolle Klassengemeinschaft: Das sind genau die Elemente, die auch heute immer wieder beweisen, wie Schule sein könnte. Dann werden Kräfte frei, die auch in einem morschen System mit sinnlosen Vorschriften und ahnungslosen Vorgesetzten wirksam werden. Diese Verschwörung zum Guten überwindet jeden Widerstand und zeigt, dass Schulbildung und Herzensbildung nicht zwei paar Schuhe sein müssen.
Felix und wie er uns lehrte, die Welt zu lieben
Felix ist anders. Außer einer Hand und dem Kopf kann er nichts mehr bewegen. Er wird beatmet und manchmal muss Schleim abgesaugt werden. Die Folgen eines Autounfalls. Felix ist sechs Jahre alt, querschnittsgelähmt und für den Rest seines Lebens an den Rollstuhl gefesselt. Seine Eltern haben nach dem Kindergarten versucht, einen Platz in einer „normalen“ Grundschule für ihn zu finden. Felix wurde von allen abgelehnt. Die Begründung der Schulen war vor allem die Angst der Lehrer, denn das Kind muss rund um die Uhr in der Schule durch eine Krankenschwester betreut werden. Geistig ist Felix völlig normal.
Sonja Schärf, eine junge Lehrerin an einer privaten Grundschule, wird von ihrer Direktorin gefragt, ob sie sich zutraue, das Kind in ihre erste Klasse aufzunehmen. „Ich habe gesagt, dafür sind wir da. Das ist eine Aufgabe. Ich habe natürlich nicht gewusst, worauf ich mich einlasse, aber ich habe mich darauf gefreut.“ Von ihren Kolleginnen schlägt ihr Skepsis entgegen: „Das tust du dir an, da steht doch dann immer eine schulfremde Person bei dir in der Klasse.“ Der Verantwortliche der Schulbehörde verweigert eine zusätzliche Integrationslehrerin mit den Worten: „Wozu brauchen wir das, ihr steht euch dann doch nur gegenseitig im Weg herum.“ Im Sommer macht sich Sonja Schärf viele Gedanken und bereitet sich genau vor. So hat sie vor allem viele Bewegungsspiele für ihre Klasse geplant und fragt sich, wie das denn werden wird, wenn Felix nirgends mitmachen kann.
„Wir haben den Kindern gleich am ersten Schultag die Situation genau erklärt. Auch scheinbar schwierige Dinge, wie das mit dem händischen Abpumpbeutel funktioniert, wenn das Beatmungsgerät ausgeschaltet ist. Wir zeigten ihnen die Geräte und ließen sie alles probieren. Dass der Beatmungsschlauch aus dem Hals herausrutschen kann, warum das kein Problem sei und wie man ihn wieder hineinsteckt. Für die meisten Kinder war die Situation keine Belastung, sie haben alles angenommen und ausprobiert. Bis auf ein Mädchen, das sehr ängstlich dreingeschaut hat. Nach ein paar Tagen hat sich dann ihre Mutter an mich per Mitteilungsheft gewandt und mir geschrieben, dass Felix ein Problem für die Klasse sei, weil ihre Tochter sich fürchte. Darauf habe ich ziemlich brutal zurück geschrieben: Das Problem sei nicht Felix, das Problem sei auch nicht ihr Kind, das Problem sei sie selbst. Eine Woche später hat genau
Weitere Kostenlose Bücher