Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
wie von einem fernen Feuer; doch als er blinzelte, tanzte der Fleck vor seinen Augen. Kurz darauf war er gänzlich verschwunden. Wilhag hatte nichts davon bemerkt. Er hielt ein Feuer oder Licht für ausgeschlossen, weder diesseits noch jenseits der lotrecht aufragenden Flussinsel – niemand lebe dortunten, beharrte er. »Es wird ein schimmernder Tümpel gewesen sein«, vermutete er. »Die gibt’s da unten zu tausenden. Seine Oberfläche hat die Sonne gespiegelt, als der Wind einen Baum bewegte und du ihn so kurzzeitig sehen konntest.«
»Ich weiß nicht«, widersprach Finn. »Es kann kein Sonnenlicht gewesen sein. Die Sonne steht längst hinter uns, über den westlichen Hängen. Alles dort unten liegt im Schatten. Und damit nicht genug. Der Himmel ist bewölkt, Wil. Vergiss deinen Tümpel. Es war etwas anderes. Warum soll es denn kein Feuer gewesen sein?«
»Weil das ganze Land leer und verlassen ist, deswegen. Oder es war niemals bewohnt, was es wohl richtiger trifft«, sagte er. »Nicht einmal des Nachts siehst du drunten ein Licht, nur tintige Schwärze, abgesehen vom Blinken der Sterne in den Wassern des Tarduil.«
Aufmerksam betrachtete Finn den Himmel, soweit er nur schauen konnte; und er war erleichtert, von Nord bis Süd keine schwarzen Punkte über den Landen schweben zu sehen, weil das mit einiger Wahrscheinlichkeit berittene Criargs gewesen wären. Doch der Himmel war frei, abgesehen von quellenden Wolken. Auch kein Áar ließ sich sehen, und sie erkannten wenig später den Grund dafür. Der Wind frischte merklich auf, und erste Wasserstippen fielen aus dem sich immer dichter bewölkenden Himmel. Der vorhergesagte Regen kam. »Die Eren jagen selten, wenn es schüttet«, erklärte Wilhag. »Es sind kluge Tiere, das hat Bartolo stets behauptet. Wir sollten es ihnen nachtun und uns sputen. Ich wünschte, wir hätten Flügel. Komm!«
Die beiden Vahits sprangen auf. Vorsichtig liefen sie über den Damm und stiegen jenseits der Kluft vom Beukelfelsen herunter. Etwas wie fallende Steine polterte unter ihnen, als habe ein schneller Fuß sie auf dem tieferen Abschnitt des Pfades bewegt; beide erstarrten sie und lauschten. Wilhag glaubte, sich entfernende Schritte zu hören und keuchenden Atem, doch Finn hörtenichts, abgesehen von den ersten platschenden Tropfen, die sich schnell zu dünnen Perlenketten verdichteten. Im Nu wurde der Stein zu ihren Füßen dunkel und rutschig. Sie zogen ihre Kapuzen über die Köpfe und eilten, teils schlitternd, teils springend, auf dem gewundenen Weg hinab, aber da war niemand. Keine verborgenen Schritte im Dickicht, kein Davonhasten irgendwelcher Füße außer ihrer eigenen. Dumpfer Donner grollte, fern hinter den Bergen, und im Südwesten wetterleuchtete es. Da liefen sie los, und sie kamen eben noch rechtzeitig am Tauberhaus an, als die Wolken ihre nasse Last auch schon entließen. Inku bellte zufrieden; er war unter Finns Mantel mit trockenem Fell davongekommen.
Der Nachmittag verrann in dicken Fäden an den Butzenscheiben.
Von drinnen sahen sie weit draußen über dem Sturz Vorhänge von windgetriebenem Regen schräg herabsinken. Die Tiefenlande verwandelten sich in ein Meer aus grauweißer Gischt, die über die gezackten Felsen der Insel Langschelf stob. Der Himmel wurde dunkel vom Gewitter, und früh entzündeten die Vahits Kerzen und Leuchter an diesem Tag. Walnutia rief zum Tee, und während es draußen schüttete, saßen sie gemütlich beim Feuer und sahen über den dampfenden Tassen den Schlieren zu, die an den Scheiben entlangliefen. Fionwen und Ewerdine brachten Furgo auf seinem Stuhl herein, und wieder hatte Finn Anlass zum Staunen ob der tauberischen Handwerkskunst: Geschickte Hände hatten eine ringsum abgerundete Platte gezimmert, auf der der Stuhl nun in kleinen Vertiefungen ruhte. Unterhalb der Platte drehten sich zwei hölzerne Rollen, den Teigwalzen der hüggelländischen Hausfrauen nicht unähnlich. Die beiden Schwestern hoben und schoben ihn zu den anderen. Wieder wurde Furgo der kleine Finnig gegeben, doch mit niemandem sonst sprach er auch nur ein Wort. Seinen eigenen Sohn schien Furgo nicht zu bemerken, obwohl Finn den Vater mehrfach besorgt ansprach.
Ein süßer Duft drang alsbald in ihre Nasen. Unter allgemeinem Beifall brachten Amadine und Harriata große Teller mit ganzen Bergen von warmen Pflaumenkuchen herein. Während alle schmausten, betrachtete Finn stirnrunzelnd sein Stück, als habe er etwas Wichtiges vergessen.
Dann fiel es ihm
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