Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
ein. »Wo ist eigentlich Bholobhorg abgeblieben?«, fragte er Wilhag. »Den dicken Landhüter meine ich. Er schloss sich uns in Mechellinde an. Ich erinnere mich, ihn zuletzt auf der Bank zur Straße hin sitzen gesehen zu haben.«
»Wenn du den jungen Feldschwirl meinst«, antwortete Walnutia an Wilhags Stelle, »das kann ich dir sagen. Herr Gasakan forderte ihn auf, ihm zu folgen. Es war gestern nach dem Begräbnis. Das Haus war voll, und ich sah ihn immer noch dort draußen sitzen. Nicht, dass er nicht da sitzen durfte, wenn er es wollte; aber das Fenster hinter der Bank gehört nun einmal zu Furgos Kammer und ein fremder Landhüter vor dem Fenster ist nichts, was ich Ruhe haben nenne. Schön und gut, ich ging hinaus und sprach gerade mit ihm. Ich fragte, ob er vielleicht im Broch übernachten wolle. Grad da kam Gasakan vorbei; wütend war er und scheuchte den Burschen von der Bank. Einen Faulenzer nannte er ihn. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte ihn getreten, so erbost war er. Fast schrie er: Der Feldschwirljunge solle ihm folgen, es gäbe Arbeit. Sie gingen zusammen weg; und später sah ich sie zu sechst Richtung Dreihorsten reiten. Na, von mir aus sollen sie. Landhüter sind ungehobelte Kerle, wenn du mich fragst. Anders jedenfalls als du, mein Junge. Nicht einer von ihnen hat gegrüßt.« Sie schüttelte missbilligend ihr weißes Haupt.
»Nicht alle sind so, Oma«, beschwichtigte Finn. »Mein Freund Mellow ist ein früherer Landhüter und dennoch ein höflicher und netter Vahit. Du wirst ihn sicher mögen.« Walnutia nickte, wenig überzeugt, aber freundlich.
Sie ging weiter und schenkte reihum Tee nach.
»Und ein bedauernswerter noch dazu«, murmelte Finn, wieder an Wilhag gewandt. »Hör nur, wie es gießt. Hoffentlich fanden erund Circendil rechtzeitig einen Unterschlupf, falls sie schon auf dem Rückweg sind.«
Draußen grummelte es. Sie hörten, wie der Regen plötzlich schwächer auf die Dächer trommelte und nach einem besonders heftigen Donnerschlag urplötzlich aussetzte. Das Gewitter machte eine überraschende Pause, und es wurde ein wenig heller. Doch neue Wolken schoben sich heran und versprachen nichts Gutes.
Furgo nickte über seinem Kuchen beinahe im Sitzen ein; und gemeinsam mit Wilhag brachte Finn seinen Vater hinaus und durch die langen Flure zurück in Fionwens Kammer. Dort angekommen, war alle Müdigkeit verflogen. Furgo wollte nicht ins Bett und wehrte sich dagegen, sich auch nur hinzulegen. Er quälte sich aus seinem Sitz auf, hüpfte und humpelte murrend an seiner Krücke zu dem Sessel am Fenster. Mit schmerzverzogenem Gesicht plumpste er hinein. Er ließ es zu, dass Wilhag ihm beim Betten des Beines auf den Schemel behilflich war. »Hab Dank, Ewerdarg.«
Wilhag warf Finn einen vielsagenden Blick zu, ehe er wie gestern Kerzen anzündete.
Fionwen kam mit dem kleinen Finnig nach und versprach, bei Furgo zu bleiben. Erst als Furgo das winzige Bündel wieder auf dem Schoß liegen hatte, wurden seine Züge milder.
Die beiden Vettern zogen sich zurück und gingen die Treppe hinunter.
Unten erhob sich plötzlich Lärm. Die Tür des Hauses wurde aufgestoßen, und erst jetzt bemerkte Finn, dass die drei Hámlatsöhne in der Runde bisher gefehlt hatten.
Nass und glänzend wie Fischotter standen sie im Flur und schimpften auf den Regen, während sie alles volltropften und nach Handtüchern verlangten. Aber die Arbeit sei getan, berichteten sie schnaufend und sich die Haare rubbelnd. Panuffel habe ein Steingrab erhalten, erzählten sie zufrieden, und der Wagenstünde fahrbereit in der Scheune. Finn drückte die feuchten Hände der Männer und kämpfte mit einem schlechten Gewissen. Doch schon eine Viertelstunde später saßen die älteren Brüder Amafilias umgezogen und getrocknet im Kreise der ihren, waren guter Dinge und schlurften ihren heißen Tee.
Als die Sonne unterging, hörte der Regen endlich auf.
Mit der anbrechenden Dunkelheit rissen die von Westen heransegelnden Wolken zu windgepeitschten, langen Fetzen auf, die eiligst das Hüggelland verließen; doch am östlichen Himmel ballten sie sich über den Tiefenlanden und sammelten sich zu mächtigen Gebirgen aus stockendem, grauem Dunst, hinter denen die Nacht heraufzog, blauschwarz und drohend. Nur die höchsten Gipfel der Wolken fingen die letzten Strahlen des sinkenden Sonnenballs ein, und auch das nur für eine kleine Weile; feurig flammten sie auf, wie kahl geschorene Häupter, mit eng anliegenden Kappen aus
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