Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
ich habe dich gefunden.«
»Das hast du«, wiederholte sie. »So wie ich dich.«
Er nickte, eine Bewegung, die sie mehr im weichen Stroh spürte, als dass sie sie sah.
»An jedem anderen Tag«, flüsterte er, »zu jeder anderen Stunde, bevor dies alles begann – zu jeder Minute meines Lebens, bevor Banavreds Brief eintraf –, wäre ich der glücklichste Vahit unter allen Vahits gewesen, von allen, die jemals überhaupt ein Glück ereilt hat. An jedem anderen Tag!«, bekräftigte er und schwieg.
Tallia zog ihre Hand zurück. Für einen Moment lastete eine Stille zwischen ihnen, die schwerer wog als bitteres Blei.
»Was soll das heißen? Bin ich dir nicht gut genug?«
»Du mir? Nicht gut genug? Oh du liebe Güte, Tallia, nein. Das soll heißen, wir haben uns gefunden.«
Er beugte sich über sie und hielt ihren Blick mit den Augen fest. Mit einer Hand streichelte er ihre Wange. Es schien ihm Jahre her, dass er von dieser Wange eine Träne fortgeküsst hatte.
»Gefunden, ja. Ohne uns zu suchen, was es noch wunderbarer macht. So unerwartet wie ein Blitz aus heiterem Himmel und so herrlich schön wie ein Regenbogen nach einem Sommerregen. Wir haben uns gefunden. Du und ich. Und alles wäre so schön. Wäre dort draußen nicht das Verderben aufmarschiert, nicht wahr? Wir würden einander inniglich versprechen, wie es gute Sitte ist und üblich im Hüggelland. Denn das will und verlangt mein Herz.«
»Meines ebenso«, flüsterte sie.
»Weil wir uns gefunden haben. Wir würden unseren Eltern unsere Aufwartung machen, nicht wahr? Ich würde die deinen um deine Hand und du die meinen um ihren Segen bitten, und wir würden ein Halbjahr darauf mit allen unseren Freunden Brautlauf trinken und wären glücklich miteinander bis ans Ende unserer Tage. Aber ein Feind ist dort draußen. Leider. Und es sind eben keine üblichen Zeiten, die wir erleben. Das ist es, was ich dir zu sagen versuche.«
Er biss sich auf die Lippen.
»Das Ende unserer Tage? Das kann uns schneller treffen, als wir auch nur ahnen. Nimm bloß den heutigen Tag. Was war ich froh, als du mich fragtest, ob du mich begleiten kannst. Was habe ich mich gefreut, an deiner Seite zu sein. Doch dann fällt plötzlich Feuer aus dem Himmel wie Drachenfeuer. Und es kam jener Augenblick, an dem ich dachte, wir beide würden sterben. Da flog mein Herz dir zu. Und jetzt, da wir einander gefunden haben und uns zugleich ein Krieg heimsucht, da fürchte ich … da habe ich …« Er brach ab und suchte nach Worten.
»Noch mehr Angst, mich zu verlieren?«
»Ja. Und zugleich unendliche Angst, dir weh zu tun. Unabsichtlich, weil ich … wenn ich … Schon morgen könnte sich irgendein Gidrog auf mich stürzen, und mit nur ein wenig Glück auf seiner Seite würdest du vergeblich auf meine Rückkehr warten. Oder ich könnte mitansehen müssen, wie dir etwas zugefügt wird wie … wie sie es Anselma antaten. Ich hielte es nicht aus. Verstehst du das, Tallia, meine Liebe?«
Sie sah ihn nur mit großen Augen an.
Nie, nie und nimmermals darf dir ein Leid geschehen!
»Meine … Liebe?« Ihre Augen waren ihm auf einmal ganz nah und flogen zwischen den seinigen hin und her.
Er nickte und schluckte an einem Kloß, der größer war als Glimfáins Helm.
»Du liebst mich?«, hauchte sie.
»Ja«, hörte er sich sagen. Und als es heraus war, da lachte er und umarmte sie und wisperte immer wieder ein »ja, ja, ja!« in ihr Haar.
»Ich dich auch«, flüsterte sie, und wiederholte es wieder und wieder, bis beide in einem schier endlosen Kuss versanken.
»Und eben das«, sagte er traurig, als sie, Atem schöpfend, Stirn an Stirn nebeneinanderlagen, »wird unser Glück trüben und immerfort beschatten. Wir können nicht heiraten. Kein Heim beziehen, keinen Haushalt gründen. Wir können nur hoffen, dass wir diesen und vielleicht den nächsten Tag überleben. Wir können nicht ständig zusammen sein, obwohl ich mir nichts sehnlicher wünsche als dies: an deiner Seite zu stehen! Doch da wartet Circendil auf mich und – seine Aufgabe. Das heißt, wir werden uns trennen müssen. Für eine Weile. Oder für länger. Vielleicht morgen schon – oder heute, denn ich fürchte, Mitternacht ist längst vorbei. Dem Hüggelland stehen schwere Zeiten bevor. Es mag sein, dass seine letzten Tage angebrochen sind. Wenn wir die Gluda nicht finden. Oder schlimmer noch: wenn der Feind sie vor uns findet.« Er drückte das Mädchen an sich und sah ihre Augen feucht
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