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Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Titel: Der verlorene Brief: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert M. Talmar
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dicken Pfählen ruhte. Es gab mehrere Fenster darin und eine schmale Tür. Ein Schornstein nahm die gesamte Schmalseite der Hütte ein und begrenzte den First eines Daches, das aus großen Rindenstücken bestand, die, zu Schindeln geschnitten, einander überlappten. Vom niedrigeren Steg aus führte eine Treppe nach oben und endete gerade vor der Tür.
    Mücken und Libellen schienen diesen Platz zu mögen, denn sie umschwirrten die Köpfe der vier Vahits in atemberaubender Zahl, und in ihr nicht enden wollendes Gezirpe und Geflirre mischte sich ein Chor aus unkenden und quakenden Stimmen, deren Urheber unsichtbar auf Blättern und schwimmenden Ästen hockten und dann und wann in den Pfuhlen platschten. Zwischen den Ästen aber flatterten jagende Vögel aller Arten, wenn man es denn ein Jagen nennen wollte   – die Menge der Mücken war so hoch und ihr Sirren so allgegenwärtig, dass Finn meinte, es müsse einem jedem Vogel vollauf genügen, einfach nur während des Fluges den Schnabel aufzusperren, um alsbald gesättigt zu sein.
    Dieser Gedanke brachte seinen Magen zum Rumoren, und ein inneres Zwicken wie von einem Krampf gesellte sich zu seinen übrigen Schmerzen. Die letzte Mahlzeit konnte er nicht mehr erinnern, und es schien ihm Wochen her zu sein, dass er nach guter Vahitsitte mit seinen Freunden zu Tisch gesessen hatte.
    Aus dem Schornstein kräuselte Rauch auf, und Finn verwunderte sich sehr, die Hütte zu sehen   – sie war ohne Frage schon viele Jahre alt, vollständig aus ungeschälten Stämmen erbaut, allesamt verwittert und dunkel vom Ruß herabfallenden, feuchten Qualms. Der Moorreeter Bruch begann unmittelbar am Westrand des Dorfes. Obwohl Finn hier aufgewachsen war und er sich früher sehr wohl entlang des Sumpfes und auch am Rand des sich anschließenden Hochmoores herumgetrieben hatte   – von einer Hütte inmitten der Fenne hatte er noch nie zuvor gehört.
    »Wir bringen Besuch«, röhrte Ridibunds tiefe Stimme hinter ihm, als sie den Steg zur Hälfte überquert hatten. Gekreische und Geflattere über ihnen antworteten ihm, und ein ganzer Schwarm Schnepfen stieg meckernd zu höheren Astlagen auf.
    Die Tür der Hütte wurde aufgerissen, und Frau Rana streckte ihren Kopf heraus.
    »Ach du liebes bisschen!«, rief sie, kaum dass sie Finns tropfender Gestalt ansichtig wurde. »Was hat dich denn zu uns geführt?«
    »Er ist vom Himmel gefallen«, antwortete Wigo.
    »Er ist fast ertrunken und erstickt«, ergänzte Buffo.
    »Er wollte sich das Leben nehmen«, verkündete Ridibund dumpf.
    »Das wollte ich nicht«, widersprach Finn. »Auch wenn du es nicht glaubst. Aber wo ich schon mal da bin   … Ich wünsche dir einen guten Tag, Frau Rana. Verzeih, wenn ich nach Schlamm stinke und ungewaschen bin und nicht nach dem aussehe, was ich bin   – unter der Kruste hier steckt Finn Fokklin, musst du wissen. Wir kennen uns von deinem Besuch bei uns zum Tee, falls du dich daran erinnerst. Und da fällt mir ein   – ich soll dir nämlich die besten Grüße von Herrn Abhro Rabner bestellen. Er benötigt dringend und auch reichlich von deiner Froschsalbe, sagt er. Es hat böse Brandwunden gegeben, und sein Vorrat ist dahin. Ich komme selbstverständlich für alle Kosten auf.« Sprach’s und verbeugte sich artig, als stünden sie einander nicht im modrigen Wald gegenüber, sondern im Wohnzimmer seiner Eltern.
    Frau Rana starrte ihn schweigend und fassungslos an, aber es dauerte eine kleine Weile, bis er begriff, dass ihr entgeisterter Blick nicht allein ihm und seinem unsäglichen Äußeren, sondern mehr noch der Dwargenaxt galt, die er auf seiner Schulter führte.
    Denn so stand er an der Schwelle zu Frau Ranas Hütte: fast schwarz vom Morast an Gesicht und Kleidung, mit triefenden, ins Gesicht hängenden Haaren, sodass die funkelnden Augen halb verdeckt waren, eine blanke Blattaxt auf der Schulter, deren Griff er umfasst hielt, als gelte es, einen raschen Hieb zu führen; hätte er zu allem noch eine Kapuze getragen, er hätte einem der Scharfrichter der Dirin geglichen, von denen in alten Büchern die Rede war, wenn auch einer mit gekräuselten Moorflechten im Haar.
    »Nun, wenn du Herr Fokklin bist«, sagte Frau Rana in die gespannte Stille hinein. »Dann sei unser Gast. Aber du wirst sicher verstehen, wenn ich dich vorerst nicht hereinbitte.«
    Finn nickte, grinste schwach und lehnte die Axt an die Hüttenwand. Dann stützte er sich selbst dagegen und rutschte an den querliegenden Baumstämmen nieder

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