Der verlorne Sohn
Namen, Stand und Alter der Verstorbenen. Dann erklang die nächste Strophe:
»Lebe, wie Du, wenn Du stirbst,
Wünschen wirst, gelebt zu haben.
Güter, die Du hier erwirbst,
Würden, die Dir Menschen gaben,
Nichts wird Dich im Tod erfreu’n;
Diese Güter sind nicht Dein.«
Nun folgte die eigentliche Rede des Geistlichen. Er hielt sie kurz, fast karg. Es war, als habe er Grund, auf die gewöhnlichen Lobreden zu verzichten. Als er geendet hatte, trat er vom Altar fort und es folgte der Gesang:
»Tritt im Geist zum Grab’ oft hin;
Siehe Dein Gebein versenken.
Sprich: Herr, daß ich Erde bin,
Lehre Du mich selbst bedenken.
Lehre Du mich’s jeden Tag,
Daß ich weiser werden mag.«
Jetzt erfolgte eine feierliche, fast bedrückende Pause. Der Anstaltsdirector stand noch immer zu Häupten der beiden Särge, so bleich und unbeweglich, als ob er selbst auch todt sei. Jetzt erhob er leise die Hand und sagte in tiefem, ernstem Tone:»Ja, Herr, daß ich Erde bin, lehre Du mich selbst bedenken! Lehre Du mich’s jeden Tag, daß ich weiser werden mag! Diese Worte sind es, welche mir in den Ohren und im Herzen fort und fort geklungen haben, seit ich die erschütternde Nachricht von dem Tode dieser beiden Abgeschiedenen erhielt. Sie sind aus dem Leben gegangen, ohne eine Schuld gebüßt zu haben, die auf ihrem Gewissen lag. Ich als der einzige Ueberlebende der Familie ihres Namens will diese Schuld von ihnen nehmen, ehe wir ihre Körper der Erde anvertrauen.«
Er schwieg einen Augenblick. Es war ein Augenblick gespanntester Erwartung. Dann sagte er:
»Herr Petermann, kommen Sie mit Ihrer Tochter näher. Ich habe zu Ihnen zu sprechen.«
Das hatten die Beiden nicht erwartet. Sie fühlten sich fast erschrocken.
Doch ergriff der Vater die Hand seiner Tochter und trat so nahe, daß Beide in den hellen Schein der Kerzen zu stehen kamen. Jetzt nun fuhr der Sprecher fort: »Hier dieser eine der beiden Heimgegangenen hat ein schweres Verbrechen an Ihnen verübt. Er hat Sie um Ihre Freiheit und um Ihre Ehre gebracht, während es doch von ihm nur eines Wortes bedurft hätte, um Ihre vollständige Unschuld zu beweisen. Er schwieg aus Feigheit und Sie mußten büßen, ohne etwas verbrochen zu haben. Und des Anderen Pflicht wäre es gewesen, Gnade walten zu lassen, selbst wenn er von Ihrer Schuld überzeugt gewesen wäre; er aber verhärtete sein Herz und ließ Sie der ganzen Strenge des Gesetzes anheim fallen. Sie waren ein treuer Diener unseres Hauses und opferten sich, um die Ehre unseres Namens aufrecht zu erhalten. Sie wurden als Verbrecher behandelt, und Ihr einziges, unschuldiges Kind fiel in ruchlose Hände, aus denen es glücklicher Weise errettet wurde. Das Alles haben diese beiden Todten zu verantworten. Sie sind hinübergegangen, ohne Sühne leisten zu können. Ich habe die Pflicht, es an ihrer Stelle zu thun. Ich erkläre hiermit an den Särgen der Schuldigen, daß an Ihnen, Herr Petermann, nicht der mindeste Makel haftet, daß Sie vielmehr den Verstorbenen ein Opfer gebracht haben, für welches die Kräfte von Millionen Anderen nicht ausreichend sein würden. Ich bin bereit, Ihnen eine Genugthuung zu gewähren, welche mein Gewissen mir gebietet, bitte Sie aber jetzt als der Letzte meines Namens, Ihrem Werke die Krone aufzusetzen, indem Sie den Seelen der Abgeschiedenen Ihre Verzeihung in das Jenseits nachsenden. Darf ich hoffen, daß Sie mir diese Bitte erfüllen?«
Es war so still in der Capelle, daß man das Zittern einer Spinnwebe hätte hören können. Dann sagte Petermann:
»Ich verzeihe ihnen.«
»Und Ihre Tochter?«
»Sie verzeiht ebenso wie ich. Gott möge ihnen ein gnädiger Richter sein. Ich werde für sie beten.«
»Und Ihnen möge er lohnen, was die Todten Ihnen nicht mehr lohnen können! Jetzt, da sie Vergebung gefunden haben, wollen wir ihre Hüllen der Erde anvertrauen.«
Es traten die dazu bestimmten Männer herbei. Die Gruft wurde geöffnet, man verschloß die Särge, nahm sie von den Katafalken herab und ließ sie in die dunkle Vertiefung hinab, welche dann, nachdem der Geistliche den Segen gesprochen hatte, über ihnen geschlossen wurde.
Der Fürst kehrte mit den Anderen nach dem Salon zurück, wo man sich fast ganz wortlos verhielt, bis der Anstaltsdirector nachkam. Er reichte Petermann und Valeska die Hand und sagte: »Jetzt nun will ich Ihnen auch meinen Dank sagen und von der Genugthuung sprechen, welche ich Ihnen gewähren muß. Sie haben die Ehre Ihres Namens der des
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