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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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Betreuung auskomme.
    Aber was sei mit dem Brief, in dem der Häftling seine Un-
    schuld beteuert habe? Spreche daraus nur Verschlagenheit, oder
    sei dies eine seiner Geisteskrankheit geschuldete Selbsttäu-
    schung? Pettit seufzte. Beides könne zutreffen, räumte er ein.
    Möglich, dass der Häftling in seinem Wahn sich selbst für un-
    schuldig halte. In einem Fall wie diesem, wo der Häftling gestan-
    den habe, unter zeitweiligem Gedächtnisverlust zu leiden, und
    wo man Wahnvorstellungen fortgeschrittener und gewaltsamer
    Natur nicht nur in der Anstalt, sondern auch schon zuvor, am
    ehemaligen Arbeitsplatz des Häftlings, beobachtet habe, könne
    es durchaus möglich sein, dass er sich nicht mehr an seine mör-
    derische Tat erinnere. Er, Pettit, habe schon öfter solche Fälle er-

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    lebt. Er habe es sogar schon mit Geistesgestörten zu tun gehabt,
    die in der fiebrigen Hitze ihrer Wahnvorsteilungen darauf be-
    harrt hätten, jemand anderer habe das Verbrechen begangen, um
    sich dadurch von der Schwere ihrer uneingestandenen Schuld zu
    entlasten. Niemandem könne man weniger trauen als einem
    Geistesgestörten. Deshalb sei es äußerst wichtig, betonte Pettit,
    den Äußerungen des Häftlings keinerlei Glauben zu schenken.
    Die Polizei brauche seine Behauptungen in keiner Weise zu be-
    achten, so nachdrücklich er sie auch vortrage. Eine Aussage von
    ihm sei ganz und gar wertlos.

    Da das Gefängnis von Newgate wegen einer Ruhrepidemie vorü-
    bergehend geschlossen war, wurde William auf ein Gefängnis-
    schiff gebracht, das in Woolwich vertäut lag – ein von Ungeziefer
    verseuchter Koloss, mit dem man früher Sträflinge in die ameri-
    kanischen Kolonien transportiert hatte. Dort sollte er auf seinen
    Prozess warten. Trotz der Bedenken der Ermittlungsbeamten,
    die der Gefühlsausbruch des Häftlings am Ende der Zusammen-
    kunft aus der Fassung gebracht hatte, befreite man May aus der
    Zwangsjacke, bevor er die Anstalt verließ, weil Pettit nicht wil-
    lens war, sie kostenlos dem Strafvollzug zu übereignen. Stattdes-
    sen wurde May mit schweren eisernen Handschellen gefesselt.
    Zu seiner Überführung nach Woolwich in einer fensterlosen
    Kutsche sperrte man ihn zudem in einen massiven Gitterkäfig.
    Sofort nach seiner Ankunft auf dem Schiff wurden ihm Fußeisen
    angelegt, die man zwar erst in seiner Zelle zusammenschloss, ihn
    aber bereits auf dem Weg dorthin beim Gehen schmerzhaft be-
    hinderten. William konzentrierte sich darauf, die Füße immer
    nur ein kleines Stück nach vorn zu schieben, um nicht das
    Gleichgewicht zu verlieren und zu vermeiden, dass die Schmer-
    zen in den Schienbeinen allzu schlimm wurden. Es tat ihm gut,
    eine so klar umrissene Aufgabe zu haben. Der Lärm und der Ge-

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    stank auf dem Hauptdeck waren niederschmetternd. Zu beiden
    Seiten des Schiffs reihten sich endlose schmale Zellen aneinan-
    der, und eine weitere Reihe von Zellen verlief, einem Rückgrat
    gleich, in der Mitte. Obwohl eigentlich jeder Häftling einzeln
    verwahrt werden sollte, mussten sich viele eine Zelle teilen. Die
    Männer brüllten und fluchten und rüttelten an den Türen, als
    William, begleitet von drei Wärtern, an ihnen vorbeiging. Wie
    ein Steinhagel, der aus allen Richtungen kam, prasselten die
    Stimmen auf ihn ein. William starrte geradeaus und verschloss
    die Ohren. Einigen Häftlingen hatte man eiserne Handschellen
    angelegt, die in der Zellenwand befestigt waren, so dass sie knien
    oder sich gegen die Schiffswand lehnen mussten. Ein Häftling
    befand sich auf dem Flur. Auf den ersten Blick hätte man meinen
    können, er gehe gebeugt, um nach etwas zu suchen, was ihm zu
    Boden gefallen war, aber bei genauerem Hinsehen erkannte
    man, dass an seinem Hals eine Eisenstange hing und seine Füße
    mit einer Art Steigbügel gefesselt waren. Als die Wärter an ihm
    vorbeigingen, versuchte er, sie anzuspucken, brachte aber nur
    ein winziges Tröpfchen Speichel zusammen. Beiläufig, als würde
    sein Arm bloß eine Gefängnisvorschrift ausführen, versetzte einer
    von Williams Begleitern dem Häftling mit der flachen Hand einen
    ebenfalls wenig überzeugenden Schlag auf die Schulter.
    Am Ende des Hauptdecks wartete auf William ein Metallkäfig,
    der an einer Vorrichtung aus Metallseilen und Rollen hing. Der
    Käfig war zu eng, um alle vier Personen aufzunehmen, so dass
    sich nur zwei der Wärter zu William hineinquetschten. Sie nick-
    ten dem zurückbleibenden Aufseher zu, die Tür zu verriegeln.
    Ein

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