Der Vermesser
Ruck, der William nach vorn taumeln ließ, und der Käfig be-
gann langsam nach unten zu sinken. Es wurde immer finsterer,
der Gestank nahm zu. Der Käfig glitt, ohne anzuhalten, an einem
weiteren Schiffsdeck vorbei, bis er schließlich mit einem er-
schrockenen Ächzen ruckartig stehen blieb. Die Tür wurde auf-
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geschlossen und William in die Düsternis eines Unterdecks ge-
schoben, das tief im Bauch des Schiffes lag. Dort verfrachtete
man ihn in eine Zelle, die viel kleiner war als die Zellen auf dem
Oberdeck und etwa die Größe eines geräumigen Wäsche-
schranks hatte. Da sie in der Schiffsmitte lag, war sie fensterlos,
und die Luft roch faulig und verbraucht. William juckte der
Kopf, als wäre er bereits von Läusen befallen. Es gab keine Prit-
sche, keinen Stuhl, nichts außer einem Eimer in der Ecke und
ein wenig Stroh auf dem Boden. Die Wärter befestigten Wil-
liams Fußfesseln mit Ketten an Eisenringen an der rostigen
Wand und schlossen die Tür hinter sich. Noch lange, nachdem
ihre Schritte verklungen waren, stand William mitten in der
Zelle. Es war ruhiger hier unten, der Lärm von den oberen Decks
drang nur gedämpft durch die zum Schneiden dicke Luft, aber es
war nicht die friedliche Stille eines leeren Raums. Vielmehr
bebte und vibrierte es wie in einer brodelnden Suppe, deren Bla-
sen gelegentlich zu Schreien oder zornigen Flüchen zerplatzten;
die meiste Zeit aber verströmte sie nur einen übel riechenden
Dunst der Erschöpfung und des Elends. William hatte plötzlich
das Bild Tausender Männer vor Augen, die hier zusammenge-
pfercht und übereinander gestapelt waren, jeder von ihnen für
alle Ewigkeit in seinem Zellensarg eingeschlossen. Tausende
Männer, lebendig begraben und gierig nach dem bisschen Luft
schnappend, das ihnen geblieben war. So durfte er nicht denken.
Er durfte überhaupt nicht denken. Denn wenn er ich
s
zu denken
erlaubte ...
Entschlossen tat William einen Schritt vorwärts, so dass seine
Hände die Tür berührten. Dann drehte er sich um. Durch den
Druck der an der Wand befestigten Ketten pressten sich die Fuß-
eisen schmerzhaft in sein Fleisch. Er wandte sich erneut um und
starrte auf den Boden. Unter der kleinen Eisenklappe in der Zel-
lentür war durch das endlose Scharren von Füßen eine flache
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Mulde in den blanken Dielen entstanden. Bei diesem Anblick
krampfte sich William das Herz zusammen. Er schloss die Augen.
Ohne das Chloral war sein Kopf klar und schmerzfrei, und er
nahm alle Geräusche deutlich wahr. Ganz langsam glitt er an der
Wand in die Hocke. Er musste sich seine Kräfte aufsparen. Er
würde einen Anwalt bekommen, hatten sie ihm gesagt. Das war
sein gutes Recht. Zusammen mit dem Anwalt würde es ihm ge-
lingen, hier herauszukommen. Er war unschuldig. Hawke, der
wusste, was mit England geschehen war, hatte dafür gesorgt,
dass man ihm den Mord in die Schuhe schob. William war un-
schuldig. Er war doch unschuldig, oder etwa nicht?
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XXV
D er Anwalt, dem man Williams Fall übertragen hatte, war ein
nervöser junger Mann namens Sydney Rose. Nach einer langen
Ausbildungszeit, unterbrochen von langen Phasen erzwungenen
Müßiggangs, wenn sich sein Vater wieder einmal nicht dazu be-
wegen ließ, die fälligen Gebühren zu entrichten, und Rose darü-
ber nachgrübelte, ob er zu einer juristischen Laufbahn überhaupt
berufen war, a
h tte man ihn schließlich als Anwalt zugelassen.
William war sein erster Mandant.
Obwohl Rose einer Familie entstammte, der es über Genera-
tionen hinweg gelungen war, ihre dauerhaft prekäre Finanzlage
hinter der Fassade betonter Ehrbarkeit zu verbergen, war sein
Erscheinungsbild nicht gerade einnehmend. Er war von hagerer
Gestalt und hatte das feine, farblose Haar eines Säuglings sowie
Beine und Arme von unnatürlicher Länge, die mangels jeglicher
Koordination dazu neigten, völlig unabhängig voneinander zu
agieren. Auf die unvorhersehbaren Bewegungen seiner Glied-
maßen reagierte Rose mit einer Art überraschter Willfährigkeit.
Überhaupt erweckte der junge Anwalt den Eindruck, als befände
er sich in einem Dauerzustand der Fassungslosigkeit. Wenn er
schluckte, was oft geschah, scheuerte sein Adamsapfel am Kra-
gen. Er hatte hervortretende, rot unterlaufene Augen und so
helle Wimpern, dass man sie kaum sah. War er nervös, traten die
Augäpfel noch weiter aus ihren Höhlen. Seine bartlosen Wangen
hatten die bläulich weiße Blässe
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