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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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fassen bekommen, sie seinem Willen unterwerfen,
    sonst würde er alles verlieren. Sie werden alles verlieren. Doch
    so eindringlich er sich diese schreckliche Beschwörungsformel
    auch immer wieder vorsagte, sie entglitt ihm, so dass er ihre
    Wahrheit nicht festhalten konnte. Sein Geist war fest versiegelt.
    Sein Herz zog sich zusammen, wurde hart wie eine Walnuss und
    weigerte sich, diese Wahrheit in sich eindringen zu lassen. Wil-
    liam sah das und verfluchte sich für seine Schwäche. Er wusste
    bereits, dass er wie ein Unbeteiligter seinen unausweichlichen
    Untergang beobachten und nichts dagegen unternehmen würde.
    Nichts dabei empfinden würde. Er ballte die Fäuste und presste
    die Knöchel gegen die Oberschenkel, als die Schwärze ihn auszu-
    füllen begann, langsam zuerst wie schwebende Rußpartikel und
    dann mit einer unaufhaltsamen Flut von solcher Heftigkeit, dass
    sie ihm die Organe in der Brust zerquetschte und ihm das Mark
    in den Knochen vergiftete. Sie presste sich ihm auf die Augen, bis
    nur noch Dunkelheit um ihn war, und erfüllte seinen Kopf mit
    einem unablässigen, gnadenlosen Kreischen. Er konnte nicht
    mehr atmen. Die Schwärze lähmte seine Lungen und schnürte
    ihm mit ihren sehnigen Tentakeln die Kehle zu. Auf seinem
    Schreibtisch lag ein Messer zum Aufschneiden von Zeitungen.
    Seine silberne Klinge blitzte, ein Streifen vollkommenen Lichts
    in blinder Dunkelheit. Das Messer war stumpf, auf einer Seite je-
    doch gezackt, so dass man nur fest genug andrücken und un-
    barmherzig sägen musste ...

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    Danach war er, so vermutete er später, unzählige Stunden ziel-
    los in der Stadt umhergeirrt. Ihn schmerzten die Füße, und die
    Hosenaufschläge waren voller Staub. Kurz vor Sonnenaufgang
    kehrte er in sein Haus in Lambeth zurück, um sich ein frisches
    Hemd überzuziehen. Die Ärmel des alten hingen in blutigen
    Fetzen herab. Er knüllte es zusammen und versteckte es in
    dem schmalen Wäscheschrank unter der Treppe. Polly und das
    Kind waren noch nicht wach. In der Küche goss er Wasser in
    eine Schüssel. Die zerfetzten Wunden an seinen Armen waren
    schmutzverkrustet und mit Baumwollfasern verklebt, aber seine
    Hände zitterten nicht, als er sich säuberte n
    u d verband, ehe er
    leise das Haus wieder verließ. Er fühlte sich ruhig und sehr klar.
    Es versprach ein weiterer schöner Tag zu werden. Die Sonne
    war eine frisch gewaschene Zitrone vor einem blassblauen Him-
    mel, und braune Blätter schwebten wie schrumplige Hände von
    den tief hängenden Zweigen der Platanen. Als er die Themse
    überquerte, erblickte er flussabwärts die ersten eisernen Streben
    der neuen Westminsterbrücke, die auf das sonnenerleuchtete
    Band des Flusses dicke schwarze Linien zeichneten. Jenseits da-
    von, entlang eines riesigen, parallel zum Nordufer ausgehobenen
    Grabens, drängten sich zahllose Gerüste, Holzbaracken und Aus-
    hubhaufen aus Erde und Lehm aneinander, und über diesem ge-
    waltigen Chaos thronte ein riesiger Kran, der seinen mächtigen
    Arm triumphierend in die Höhe reckte. Die ganze Londoner In-
    nenstadt befand sich im Belagerungszustand, in den Straßen gab
    es überall Barrikaden und Befestigungen, wo man den Schlamm
    wegkarrte, um an dessen Stelle die Fundamente für neue und
    bessere Gebäude zu setzen, für schnellere Eisenbahnen, für ge-
    radere, breitere Durchgangsstraßen. Der Fortschritt war nicht
    aufzuhalten. Er bohrte sich unermüdlich durch den Londoner
    Lehm, drängte durch den Schlamm nach oben in Säulengänge
    und Türme, nach unten in Tunnel und verschüttete Paläste. Der

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    Mensch konnte nur hoffen, sich diese Energie nutzbar zu ma-
    chen, sie so zu verfeinern, dass sich die Turmspitzen triumphal
    in den Morgenhimmel reckten und die Tunnelschächte solide
    und verlässlich waren, für immer und ewig. Dass, wenn die arm-
    seligen Geschichten über gewöhnliche, vergeudete Leben längst
    aus dem Menschheitsgedächtnis gelöscht waren, diese Türme
    und Tunnel noch stehen würden. Und dass, auch wenn es der-
    einst keine anderen Zeugen mehr gab, diese Türme und Tunnel
    auf ihre Weise Zeugnis davon ablegten, dass selbst der kargen
    Saat eines unwürdigen Lebens etwas abgerungen werden konn-
    te, das zur Ehre gereichte.

    Alfred England war von großer Statur, mit breiten Schultern
    und einem wild wuchernden Backenbart, hatte aber eine unna-
    türlich hohe Stimme und wirkte sehr fahrig. Bei ihren Begeg-
    nungen an jenem Tag und auch danach veränderte sich sein

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