Der Vermesser
zu
erwarten, dass die Behörde Sie dann weiterhin beschäftigt. Oder
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Ihnen irgendeine andere respektable Tätigkeit anbietet. Das
wäre völlig undenkbar, meinen Sie nicht auch? Es besteht wenig
Hoffnung für die Zukunft
s
eine Mannes, e
d ssen Charakter so
schweren Schaden genommen hat. Sie werden alles verlieren.«
Mit grimmigem Hohn verzog Hawke den Mund und wischte
sich imaginäre Stäubchen von den Ärmeln. William starrte ihn
an, das Gesicht aschfarben. Worte wirbelten ihm durch den
Kopf und verschwanden wieder, ohne dass seine Zunge, seine
Lippen sie erkannt hätten.
»Ich denke, unsere Unterredung ist damit beendet. Aber ich
möchte Ihnen noch versichern, dass ich zu meinem Wort stehe.«
Hawke konnte sich ein G
e
rins n kaum verkneifen. »Es wäre nicht
ratsam, mich auf die Probe zu stellen. Guten Tag, Sir.«
William konnte sich nicht erinnern, wie er wieder zu seiner
Arbeitsnische gekommen war, und auch nicht an die Stunden, in
denen er wie gelähmt dagesessen und auf die Wand gestarrt
hatte. Mechanisch glitten seine Finger Zahlenkolonnen entlang
und über Schnittzeichnungen hinweg, aber seine Bleistiftnoti-
zen verschwammen ihm vor den Augen, und er wusste nicht
mehr, was sie bedeuteten. Angst und Selbsthass gärten in ihm
wie Hefe in einem Teig, breiteten sich in ihm aus, bis er kaum
noch atmen konnte. Er hatte sich fast in Sicherheit geglaubt. Seit
Wochen hatte er sich nicht mehr geschnitten. Der Oktober war
beinahe vorüber. Es war ein trockener Herbst gewesen. Der un-
aufhörliche Verkehr hatte das herabgefallene Laub zu kupferfar-
benem Staub zermahlen, und am frühen Nachmittag ergoss sich
das Sonnenlicht wie geschmolzene Butter über die rußige Hin-
tertreppe in Lambeth. Doch William bekam kaum etwas davon
mit. Jetzt, da Bazalgettes großes Projekt umgesetzt wurde,
herrschte in den Büros in der Greek Street lebhaftes Treiben. Ie-
den Tag gab es Anfragen zu beantworten, Berechnungen zu er-
stellen und Verträge zu schließen. Häufig saß William schon vor
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sieben Uhr morgens an seinem Schreibtisch und kehrte erst
spätabends nach Hause zurück. Und er hatte wieder angefangen,
sonntags zu zeichnen. Dafür hatte er sich ein in weiches Gerb-
leder gebundenes Skizzenbuch gekauft, in dem er mit Tinte und
Wasserfarben die Blumen festhalten wollte, die im Gestrüpp
entlang der Bahngleise wuchsen. Auch für den kleinen William
hatte er eine in Leinen gebundene Kladde besorgt sowie ein Sor-
timent von Farbstiften, damit sich sein Sohn zu ihm setzen und,
die Zunge zwischen den Zähnen, ebenfalls an den gezackten
Blüten und Blättern versuchen könnte. Ende September hatte
William ein paar unbrauchbar gewordene Blätter Florpost mit
nach Hause genommen und darauf zunächst zaghaft, dann aber
mit wachsender Begeisterung begonnen, den Plan für einen Gar-
ten zu zeichnen. Natürlich würden sie darin Gemüse anpflan-
zen, aber das war nicht sein Hauptanliegen. Lieber beschäftigte
er sich mit dem sonnigen südlichen Streifen des Hofs. Dort
würden er und sein Sohn für Polly Blumen züchten. Für Polly
und das Baby. Denn Polly war wieder guter Hoffnung. Nachts,
wenn sie neben ihm schlief, legte William sanft die Hand auf die
Schwellung ihres Bauchs und entwarf im Geist die Wiege, die
er dem Baby zimmern wollte. Der kleine William hatte nie eine
Wiege gehabt. In dem Findelheim in Battersea, so hatte ihm
Polly erzählt, hatten die Säuglinge nebeneinander in Obstkisten
gelegen wie Äpfel. Aber dieses Baby würde eine Wiege bekom-
men, eine Schaukelwiege mit einem Vorhang und einer kleinen
Bettdecke, eine Wiege wie aus einem Märchen. Und wenn Wil-
liam nach Hause kam, würde die Wiege vor dem prasselnden
Kaminfeuer stehen, und Polly würde lächeln und den Finger an
die Lippen legen, weil in diesem Traum von Wiege das Baby
schliefe, den winzigen rosa Mund zu einem winzigen rosa Lä-
cheln verzogen. Und alles würde so sein, wie es sein sollte. Wie
sie es sich erträumt hatten.
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Das Kaminfeuer im Zimmer der Vermesser war niederge-
brannt, und ächzend fiel die Asche durch den Rost. Es war so
kalt, dass sich Williams Hände an den Knöcheln blau gefärbt
hatten. Er war mutterseelenallein. Hawkes gemeine Worte gin-
gen ihm unablässig durch den Kopf, dunkle, ungreifbare Schat-
ten, die ihn ganz irre machten. Er musste sich ihnen stellen, das
wusste er, während er zitternd in seiner kalten Nische saß. Er
musste sie zu
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