Der Verrat
Reporter Auskunft gab.
DREISSIG
Zum Beratungstermin im CCNV kam ich allein und zwei Stunden zu spät. Die Mandanten saßen geduldig auf dem schmutzigen Fußboden der Eingangshalle. Einige waren eingenickt, andere lasen Zeitung. Ernie, der Hausmeister, war nicht erbaut über meine Unpünktlichkeit - auch er musste sich an Termine halten. Er schloss den Beratungsraum auf und gab mir ein Klemmbrett mit einer Liste von dreizehn Mandanten. Ich rief den ersten herein.
Es war erstaunlich, wie sehr ich mich innerhalb einer Woche verändert hatte. Vor ein paar Minuten hatte ich dieses Gebäude betreten, ohne dass ich Angst gehabt hätte, erschossen zu werden. Ich hatte in der Eingangshalle auf Eddie gewartet und nicht daran gedacht, dass ich weiß war. Ich hörte meinen Mandanten geduldig zu, ohne dass meine Effizienz darunter litt, denn ich wusste, was zu tun war.
Ich sah inzwischen sogar aus wie ein Armenanwalt: Ich hatte mich seit mehr als einer Woche nicht mehr rasiert, mein Haar berührte die Ohren, und die Frisur verlor langsam ihre Form. Die khakifarbene Hose war ebenso verknittert wie mein Blazer, und den Krawattenknoten hatte ich nicht ganz festgezogen. Meine Turnschuhe sahen zwar immer noch teuer, aber auch etwas mitgenommen aus. Eine Hornbrille, und ich wäre der perfekte Bürgerrechtsanwalt gewesen.
Den Mandanten war das völlig gleichgültig. Sie wollten jemanden, der ihnen zuhörte, und das war ich. Die Liste wurde länger und umfasste schließlich siebzehn Namen. Die Beratung dauerte vier Stunden. Ich vergaß den bevorstehenden Kampf mit Drake & Sweeney. Ich vergaß Claire, auch wenn mir das traurigerweise leichter fiel. Ich vergaß sogar Hector Palma und meine Reise nach Chicago.
Doch Ruby Simon konnte ich nicht vergessen. Irgendwie musste ich bei jedem neuen Mandanten an sie denken. Ich machte mir keine Sorgen um ihre Sicherheit -
sie hatte auf der Straße länger überlebt, als ich es gekonnt hätte. Aber warum hatte sie ein sauberes Hotelzimmer mit Bad und Fernseher zugunsten eines schrottreifen Wagens verlassen?
Weil sie süchtig war - das war die naheliegende und unvermeidliche Antwort.
Crack war der Magnet, der sie zurück auf die Straße zog.
Wenn ich sie nicht einmal dazu bewegen konnte, drei Nächte in einem Vorortmotel zu bleiben, wie sollte ich ihr dann helfen, von der Droge loszukommen?
Die Entscheidung lag nicht bei mir.
Am späten Nachmittag bekam ich einen Anruf von meinem älteren Bruder Warner. Er sei ganz unvorhergesehenerweise in der Stadt und hätte mich früher angerufen, leider aber meine neue Nummer nicht gleich herausfinden können. Ob wir uns zum Abendessen treffen könnten? Er wolle mich einladen, sagte er, bevor ich antworten konnte; er habe von einem tollen neuen Restaurant namens Danny O
gehört. Ein Freund habe vor einer Woche dort gegessen und sei begeistert gewesen. Ich hatte schon seit langer Zeit nicht mehr an teures Essen gedacht.
Ich war mit Danny O einverstanden. Es war in, laut, überteuert und auf traurige Weise typisch.
Noch lange nach dem Gespräch starrte ich gedankenverloren auf das Telefon.
Eigentlich wollte ich mich nicht mit Warner treffen, weil ich nicht hören wollte, was er zu sagen hatte. Er war sicher nicht geschäftlich in der Stadt, auch wenn das ungefähr einmal im Jahr der Fall war. Ich war ziemlich sicher, dass meine Eltern ihn geschickt hatten. Sie saßen in Memphis und trauerten über eine weitere Scheidung und die Tatsache, dass ich von der Karriereleiter gefallen war. Jemand musste nach mir sehen. Und dieser Jemand war immer Warner.
Wir trafen uns in der überfüllten Bar des Danny O. Bevor wir uns die Hand schütteln oder uns umarmen konnten, trat er einen Schritt zurück, um meine neue Erscheinung zu mustern. Bart, Frisur, Khakihose, alles.
»Ein echter Linksliberaler«, sagte er mit einer Mischung aus Witz und Sarkasmus.
»Schön, dich zu sehen«, sagte ich und versuchte, seine theatralische Eröffnung zu überhören.
»Du bist dünner geworden.«
»Du nicht.«
Er tätschelte seinen Bauch, als hätte er im Verlauf des Tages unbemerkt zugenommen. »Das wird schon wieder.« Er war achtunddreißig, sah gut aus und war noch immer ziemlich eitel. Allein die Tatsache, dass ich eine Bemerkung über sein Gewicht gemacht hatte, würde ihn dazu motivieren, diese Pfunde innerhalb eines Monats wieder loszuwerden.
Warner war seit drei Jahren geschieden. Frauen spielten eine wichtige Rolle in seinem Leben. Während des
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