Der Verrat
an. Der Januar in Washington. Kennedy schaltete das Licht ein und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Mit ihren fünfundvierzig Jahren sah sie für ihr Alter recht gut aus, aber um sechs Uhr morgens, ungeschminkt und mit Schlaffalten im Gesicht fand sie sich selbst zum Fürchten. Man hatte es nicht leicht als Frau in dieser Stadt. Sie drehte die Dusche auf, damit das Wasser warm wurde, und begann mit dem Zähneputzen. Mit der Zahnbürste im Mund ging sie in die Küche und setzte Wasser für den Tee auf. Auf dem Rückweg warf sie einen Blick in das Zimmer ihres Sohnes. Er lag unter der Decke und schlief friedlich.
Kennedy hasste es zu frieren. Sie steckte ihr Haar auf und trat in die Dusche. Fünf Minuten stand sie im heißen Wasser, bis sich ihre Haut rosa verfärbte. Sie brauchte fünf Minuten, um sich abzutrocknen und anzuziehen, und weitere fünf für ihr Gesicht. Um 06:33 Uhr verständigte sie ihr Sicherheitsteam von der Sitzung und setzte sich in die Küche, um nach einem ersten Schluck Tee im Global Operations Center in Langley anzurufen. Der diensthabende Officer meldete sich nach dem ersten Klingeln. Kennedy fragte ihn, ob es irgendetwas Nennenswertes zu berichten gab. Er meldete, dass die Nacht ziemlich ruhig verlaufen sei. Die Antwort überraschte sie doch einigermaßen, und so fragte sie ihn, ob er sicher sei. Er blieb dabei, und sie bedankte sich und legte auf.
Kennedy nahm die warme Teetasse in beide Hände, lehnte sich an die Arbeitsplatte und fragte sich, warum der Präsident am Sonntagmorgen um sieben Uhr eine Sitzung einberief. Wenn das Global Ops Center nichts wusste, bestand die Möglichkeit, dass die Krise vom Pentagon oder vom Justizministerium ausging. Eine Woche vor dem Ende hatte Kennedy ein zwiespältiges Gefühl. Sie nahm noch einen Schluck Tee und fragte sich, ob es nicht auch sein Gutes hatte, wenn sie ihren Job verlor. Sie hatte ihr ganzes Erwachsenenleben fast nur für ihren Beruf gelebt. Mehr als zwanzig Jahre war sie in Langley tätig gewesen und hatte ihre ganze Energie in die Arbeit investiert. Der Job hatte sogar ihre Ehe ruiniert. Sie überlegte einige Augenblicke und kam zu dem Schluss, dass es nicht fair war, der CIA die Schuld an ihrer gescheiterten Ehe zu geben. Die Beziehung wäre auch zerbrochen, wenn sie die ganze Zeit zu Hause bei ihrem Kind geblieben wäre. Ihr Exmann war einfach zu selbstsüchtig. Das zeigte sich nicht zuletzt daran, dass seine zweite Ehe schon nach neun Monaten wieder zu Ende ging. Er war ein anständiger Kerl, aber seine Mama hatte ihn immer verwöhnt, und das hieß, dass man sich rund um die Uhr um ihn kümmern musste. Kennedy hatte jedoch weder Zeit noch Lust, seinem Ego die Aufmerksamkeit zu widmen, die er verlangte. Außerdem war man nie gut beraten, eine derart einseitige Beziehung einzugehen.
Kennedy setzte sich auf den Rücksitz ihres Lincoln Town Car und griff nach der Sonntagsausgabe der »Washington Post«. Dass sie sich innerlich ein wenig von ihrem Job distanzierte, war vielleicht eine unbewusste Reaktion, um sich vor der unvermeidlichen Enttäuschung des Gefeuertwerdens zu schützen. Sie wollte Langley eigentlich nicht verlassen, nicht nach einer so kurzen Phase als Direktorin. Sie würde die Leute vermissen, und auch die spannende, anstrengende Arbeit, die man zu leisten hatte, wenn man die Institution leitete, die von allen Geheimdiensten der Welt am meisten ungerechtfertigte Vorwürfe einstecken musste. Was sie nicht vermissen würde, waren die vielen Überstunden und die politischen Winkelzüge. Aber Langley als Ganzes würde ihr sehr fehlen, daran bestand kein Zweifel.
Als sie zum ersten Checkpoint kamen, war es schon sieben Uhr. Einige Minuten später hatte sie die Sicherheitskontrollen passiert, und sie beeilte sich, ins Oval Office zu kommen. Im Arbeitszimmer des Präsidenten standen schon vier Männer rund um den großen Schreibtisch – der Präsident selbst, Justizminister Stokes, FBI-Direktor Roach sowie der designierte Präsident Alexander. Roach trug Anzug und Krawatte, während die drei anderen mit Blazern und offenem Hemdkragen erschienen waren. Im ersten Moment war sie überrascht, dass einige wichtige Leute fehlten – insbesondere der Verteidigungs- und der Außenminister, der Nationale Sicherheitsberater und der Stabschef des Präsidenten. Dann fiel ihr ein, dass es Sonntagmorgen war und dass in sechs Tagen der friedliche demokratische Machtwechsel über die Bühne gehen würde. In dieser Woche wurde nur wenig in
Weitere Kostenlose Bücher