Der Verrat
trat in den kleinen Vorraum ein. Zu beiden Seiten standen Bänke, und an den Wänden waren Haken angebracht. Unter den Bänken standen Schuhe. Rapp blickte durch die Scheibe in den Trainingsraum, bis ihn Rivera sah. Er bedeutete ihr mit einer Geste, zu ihm zu kommen – doch sie schüttelte den Kopf und winkte ihn zu sich herein. Rapp zögerte einige Augenblicke. Was soll’s, dachte er sich schließlich. Er zog die Schuhe aus, stellte sie unter die Bank und hängte seinen Trenchcoat an einen Haken. Da er seine Pistole am Rücken trug, ließ er sein Anzugjackett an.
Rapp betrat die Trainingshalle. Der Boden war zur Gänze mit einer blauen Matte ausgelegt. Er blickte auf die andere Seite des Raumes zum Sensei und verbeugte sich, um ihm Respekt zu erweisen, ehe er sich Rivera zuwandte. »Kann ich Sie kurz sprechen?«, fragte er.
Sie stellte einen Fuß vor den anderen und stemmte die Hände in die Hüfte. »Warum gehen Sie nicht in den Umkleideraum und ziehen sich einen Karate-Gi an? Wir können reden, während wir ein bisschen trainieren.«
Rapp lächelte. »Lieber nicht«, antwortete er.
»Nein?«, erwiderte Rivera und trat zu ihm hin. »Kommen Sie schon, Sie sind doch ein harter Bursche. Haben Sie etwa Angst?«
»Nein«, antwortete Rapp kopfschüttelnd. »Ich habe wichtigere Dinge …«
Plötzlich wurde Rapp von den Beinen gerissen. Er merkte einen Sekundenbruchteil zu spät, was passierte. Er kannte das Manöver. Das war nicht Karate, sondern Judo. Ein beidhändiger Schulterwurf. Während er durch die Luft wirbelte, hörte er ein reißendes Geräusch und wusste sofort, dass das sein Jackett war. Riveras Angriff hatte ihn dermaßen überrascht, dass er nur noch versuchen konnte, nicht zu hart zu fallen. Als er auf dem Boden landete, bohrte sich die Pistole in seinen Rücken. Rapps ganzer Körper krümmte sich vor Schmerz. Rivera hielt seinen Arm fest und drückte ihm ihr gebeugtes Knie in die Seite. Die Schmerzen im Rücken waren fürchterlich. Schließlich hörte er die Stimme des Sensei, der Rivera befahl, ihn loszulassen.
Das Gesicht des Mannes tauchte über Rapp auf. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er.
Rapp machte einen flachen Atemzug, dann noch einen. Der Sensei reichte ihm die Hand, und Rapp nahm sie. Als er wieder auf den Beinen war, hatte er nur noch einen Gedanken im Kopf. Zum Sensei gewandt, sagte er: »Einen Gi, bitte.«
Der Lehrer sah Rivera mit enttäuschter Miene an und befahl dann einem der Schüler, einen der weißen Karate-Anzüge und einen Gürtel zu holen. Rapp ging in die Ecke und zog das Jackett aus. Dann löste er das Holster mit der Pistole vom Hosenbund. Er hielt die Waffe hoch, um Rivera zu zeigen, worauf er gelandet war. Es schien ihr ein wenig peinlich zu sein, was jedoch nichts an ihrer kämpferischen Haltung änderte.
Als der Schüler mit dem Anzug zurückkam, hatte Rapp die Krawatte abgenommen und das Hemd ausgezogen. Ohne sich darum zu kümmern, was die Anwesenden dachten, zog er sein T-Shirt aus und entblößte seinen Oberkörper, der mit Narben übersät war; drei davon stammten von Schusswunden, eine große halbmondförmige Narbe am Rücken von einer Operation, bei der eine Kugel entfernt und lebenswichtige Organe gerettet wurden. Rapp zog sich bis auf die Boxershorts aus und schlüpfte in den Karate-Gi. Er zögerte kurz und blickte auf den braunen Gürtel hinunter. Es wurde ihm bewusst, dass er nie einen solchen getragen hatte. Er hatte sein Karate- und Judotraining stets im Geheimen absolviert und dabei nur weiße Gürtel getragen. Bei seiner Ausbildung war es mehr darum gegangen, einen Feind zu töten oder nachhaltig außer Gefecht zu setzen, als darum, irgendwelche Prüfungen zu bestehen. Doch erst in der Gracie-Schule wurde er so richtig in die Mangel genommen. Nach einer einmonatigen Ausbildung, in deren Verlauf er alle Teilnehmer besiegte, außer den Gracie-Jungs selbst, bekam er einen schwarzen Gürtel. Damals hatte er nicht gewusst, wie ungewöhnlich das war, doch die Gracies machten sich ihre eigenen Regeln, und für sie zählte die Fähigkeit, einen Gegner zu besiegen, mehr als alles andere.
Rapp legte den Gürtel an, so wie er es vor fast achtzehn Jahren gelernt hatte, und wandte sich Rivera zu, die nun mitten in der Halle stand und tänzelte wie ein Boxer vor dem Kampf.
Sie hielt einen Mundschutz hoch und sagte: »Freier Kampf.«
Rapp blickte zum Sensei hinüber. »Jiyu Kumite«, bestätigte er.
Der Sensei nickte und wandte sich seinen Schülern zu, die
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