Der Verrat
leicht, Menschen zu überreden oder sie die Dinge auf ihreWeise sehen zu lassen, aber beiAnnabel hatte das noch nie funktioniert.
»Als du mit deinem Bruder verschwunden bist â¦Â«, begannAnnabel.
»O nein, nicht das schon wieder!«
»Hör mir zu, Mavis!Als ihr verschwunden seid, da war ich sehr â¦Â«,Annabel räusperte sich, »⦠sehr niedergeschlagen. Ich habe erkannt, dass sich euerVater in den letzten Jahren sehr zurückgezogen hat und dass ich so in meinerArbeit aufgegangen bin, dass ich diesenVerlust nicht ersetzt habe. Das tut mir leid.«
»Hm«, machte Mae. »Schon gut.«
»Ihr zwei seid weggelaufen, weil ihr geglaubt habt, es wäre mir egal«, fuhrAnnabel fort, »aber das war es nicht. Und auch wenn euerVerhalten äuÃerst tollkühn und verantwortungslos gewesen ist, weià ich doch, dass das auch mein Fehler war.Wenn du willst, dass ich diesen Klienten abweise, damit du beruhigt bist, dann werde ich das tun. Ich sollte sowieso weniger arbeiten und ⦠wir sollten uns bemühen, zusammen zu essen.«
Wahrscheinlich sagteAnnabel das nur, weil sie glaubte, es wäre notwendig und weil sie nicht wollte, dass die anderen Frauen aus ihremTennisclub über ihre renitenten Kinder tuschelten, aber immerhin hatte sie gesagt, dass sie die Botin der Magier wegschicken würde. Mae war so erleichtert, dass sie fast inTränen ausgebrochen wäre.
»Na gut«, sagte sie. »Abgemacht.«
Plötzlich fiel ihr etwas ein und sie nestelte an der Schnur um ihren Hals, die denTalisman hielt.Wenn die Magier eine Botin zu ihrer Mutter geschickt hatten, konnten sie auch Dämonen schicken.
»Könntest du das tragen,Annabel?«, fragte sie, stand auf und hielt ihrer Mutter denTalisman hin. »Um dieAbmachung zu besiegeln.« Sie schenkte ihrer Mutter ein hoffentlich überzeugendes Lächeln.
Annabel schien erfreut über die Geste und entsetzt von demAnhänger, der aussah wie ein groÃerTraumfänger mit Knochen und Steinen.
»Vielen Dank, Mavis«, sagte sie tapfer, legte ihn um und steckte ihn sofort unter ihre Bluse. »Der ist sehr speziell. Hat er eine ⦠okkulte Bedeutung? Ich weià doch, dass du solche Sachen magst.«
FürAnnabel war wahrscheinlich alles zwischen dem Lesen von Horoskopen und regelrechtem Satanismus eine »solche Sache«, aber sie verhielt sich dennoch ausgezeichnet. Mae stellte sich hinter den Sessel ihrer Mutter, beugte sich vor und legte ihr beideArme um die Schultern, um sie kurz zu umarmen.
Annabels Rücken versteifte sich, doch sie legte Mae eine Hand auf denArm, daher wusste diese nicht recht, ob die Geste sie freute oder verlegen machte.
Mae lieà ihre Mutter los, doch zuvor flüsterte sie ihr noch ins Ohr: »Er hält böseTräume fern!«
Daran musste sie in der Nacht denken, als sie träumte, dass ihrVater ans Fenster kam und sagte, dass es ihm leidtäte und dass er nach Hause kommen wollte. Mae öffnete das Fenster nicht, denn sie glaubte ihremVater nicht einmal imTraum. Und dann waren Raben an ihrem Fenster, es braute sich ein Sturm zusammen und da drauÃen wartete etwas auf sie, das zornig war.
Ein Donnerschlag, der den Himmel zu zerreiÃen schien, schreckte sie aus demTraum hoch. Sie wachte in einem Bett voller Glasscherben auf.
Das Fenster war zerschmettert, doch drauÃen war nichts als Nacht.
Mae ging hinunter und machte sich einen Kaffee.Alles war gut, redete sie sich ein. Es ging ihr gut. Sie konnte heute vonAlan einen neuenTalisman bekommen.
Der Kaffee in ihren Händen wurde langsam kalt, als Jamie herunterkam.Als er sie sah, verhärtete sich sein Gesichtsausdruck.
»Ich habe dich gesternAbend gar nicht nach Hause kommen hören«, sagte Mae. »Wo warst du?«
»Was glaubst du denn?«, gab Jamie zurück. »Gerald sagt, er trifft sich morgen nach der Schule mit uns.«
»Ach wirklich, tut er das?«, staunte Mae. »Und du hast den ganzenAbend gebraucht, um dieseVerabredung zu treffen?«
Jamie wurde rot. »Ich kann mich treffen, mit wem ich will«, stieà er hervor. »Machst du ja auch!«
Es tat weh, dass er bereit war, auf sie zornig zu sein, ohne sie etwas erklären zu lassen, dass er vor ihr verheimlichte, was er mit Gerald tat, und dass er zuvor die Magie vor ihr verborgen hatte. Mae hielt ihreTasse fest umklammert.
»Ja«, sagte sie, »das stimmt wohl.«
4
Die falschen Fragen
I
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