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Der verschlossene Gedanke

Der verschlossene Gedanke

Titel: Der verschlossene Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Salchow
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was ungewöhnlich? Ist die Definition von ungewöhnlich im Laufe der letzten Tage nicht eine völlig neue geworden?
    Die Worte vor seinen Augen werden zum Band, nach dem er nur zu greifen braucht, um die Leser gefangen zu nehmen. Auch diesmal scheint es ihm zu gelingen.
     
    „ Herr Holstein?“ Er erkennt ihre Stimme noch bevor er aufschaut.
    „ Frau Bruckheimer“, entfährt es ihm überrascht. Er legt den Signierstift zur Seite.
    „ Ich war mir nicht sicher, ob ich Sie hier antreffen würde“, sagt sie und erinnert ihn in ihrem Auftreten nur noch wenig an die eher unhöfliche Abfuhr, die sie ihm bei ihrem ersten Treffen erteilt hat.
    Oskar schaut sich um. Nur noch wenige Leute, die in diskutierenden Grüppchen im Laden stehen. Die Menschentraube an seinem Pult ist aufgelöst. Sie scheint bewusst das Ende der Schlange abgewartet zu haben.
    „ Ich hatte nicht damit gerechnet, Sie noch einmal wieder zu sehen“, antwortet er.
    „ Ja, ich weiß. Ich war nicht gerade sehr höflich.“ Sie lächelt. „Ich hoffe, Sie können mir meine Unfreundlichkeit verzeihen, aber Sie müssen verstehen, dass mich die Situation ein wenig … nun ja … überrascht hat.“
    „ Natürlich.“ Er nickt.
    Sie hält ihre Handtasche in der einen, den Autoschlüssel in der anderen Hand. Das dunkle Haar trägt sie zu einem unscheinbaren Dutt gebunden. Beinahe wirkt sie schüchtern.
    „ Suchen Sie noch immer nach Lilli?“, fragt sie.
    „ Ja“, antwortet er. „Auch wenn es verrückt klingt, aber ich finde das Ganze einfach zu merkwürdig, um es einfach auf sich beruhen zu lassen.“
    „ Ich war verwirrt und muss zugeben, dass ich es noch immer bin. Ich habe Lilli seit Tagen nicht erreicht.“ Sie beugt sich ein kleines Stück über das Pult, ihre Stimme nimmt einen verschwörerischen Unterton an. „Hören Sie, Herr Holstein. Ich weiß nicht, warum Sie nach ihr suchen, aber Tatsache ist, dass ich dieselben Interessen habe wie Sie. Nur bin ich nicht in der Position, Lilli als vermisst zu melden, geschweige denn, mich allein auf die Suche nach ihr zu machen. Der einzige Ort, der mir in den Sinn gekommen ist und an dem sie vielleicht stecken könnte, ist das alte Fabrikgelände im Wassertorviertel.“
    „ Fabrikgelände?“
    „ Kenny wohnt dort.“
    „ Kenny?“ Mit einer fremden Frau über einen fremden Mann zu reden, erscheint ihm weniger ungewöhnlich, als er vermutet hätte. Zu verlockend ist der Gedanke, endlich eine neue Spur zu haben.
    „ Sie hatte mehr als einmal blaue Flecken, wenn sie in der Schule auftauchte. Vor den Kindern hat sie sie meist unter weiten Strickjacken und Pullovern versteckt, aber ich habe sie gesehen, wenn wir uns unterhalten haben.“ Ihr Blick nimmt einen Hauch von Angst an. „Diese Flecken kamen nicht von ungefähr.“
    „ Aber warum haben Sie denn nicht die Polizei eingeschaltet?“
    „ Ich wollte Lilli nicht in Schwierigkeiten bringen. Sie hat immer wieder versucht, die Situation zu verharmlosen. Aber am Ende hat sie dann selbst eingesehen, dass es so nicht weitergeht.“ Sie hält sich die Hand vor den Mund. Für einen Moment schweigt sie.
    „ Vielleicht ist ihr genau diese Entscheidung am Ende zum Verhängnis geworden“, fährt sie leise fort.
    „ Weil sie ihn verlassen wollte?“
    Stummes Nicken. Er hat den Eindruck, Tränen in ihren Augenwinkeln zu erkennen.
    Er steht vom Pult auf. „Dieser Kenny. Was war das für ein Typ?“
    „ Ich weiß nur, dass sie ihn aus der Kneipe kennt, in der sie ab und zu kellnert. Er arbeitet für irgendeine Transportfirma, glaube ich.“
    „ Mehr wissen Sie nicht?“
    „ Nur dass Sie hin und wieder bei ihm übernachtet. Seinem Onkel gehört das Gelände und in einem der Gebäude hat er sich im oberen Stockwerk eine Wohnung ausgebaut.“
    Sie sucht in ihrer Tasche nach einem Zettel und reicht ihn herüber. „Das ist die Adresse. Ich habe sie über das Telefonbuch ausfindig gemacht.“
    Oskar greift nach dem Papier und liest. Kenny Lasner, Wassertorviertel 14b .
    „ Sind Sie sicher, dass das die richtige Adresse ist?“
    Sie nickt. „Das muss sie sein. Es ist der einzige Eintrag unter diesem Namen.“
    Er schaut erneut auf das Papier. Ist es tatsächlich möglich, dass er endlich einen richtigen Hinweis in den Händen hält? Kein farbloser Gedanke, der ihn im letzten Moment im Nichts stehen lässt. Endlich etwas Handfestes. Endlich eine richtige Spur.
    Die Selbstverständlichkeit, in der sie sich ihm anvertraut, ermutigt ihn. „Wollen Sie mich

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