Der verschlossene Gedanke
Fabrikgelände umso gefährlicher geworden, wenn ihm dort etwas zugestoßen wäre? Wer hätte ihn finden sollen? Er muss an Gaby denken. An die Unwissenheit, in der sie auf ihn gewartet hat, in dem Glauben, dass er wegen der Vorbereitungen für seinen Roman unterwegs ist. Die Vorstellung, dass sie jemand darüber informieren könnte, dass ihm etwas zugestoßen ist, lässt ihn erschaudern. Er muss vorsichtiger werden. Unbedingt.
„ Wie hast du überhaupt herausgefunden, wo er wohnt?“
„ Die Lehrerin kannte seinen Namen und hat die Adresse ausfindig gemacht“, sagt Oskar. „Sie ist bei einer meiner Lesungen aufgetaucht. Sie scheint sich ebenfalls ernsthafte Sorgen um Liliana zu machen.“
„ Was für eine Lehrerin?“
„ Ich hab dir doch von ihr erzählt. Die Frau, bei der Liliana öfter für die Kinder vorgelesen hat.“
Verwirrung in Lennards Blick. Scheinbar hat er ihm wirklich nichts davon erzählt.
„ Die Schule, in der ich war“, ergänzt Oskar.
„ Und wie bist du in der Schule gelandet?“
„ Ich habe keine Ahnung“, antwortet er ehrlich. „Das ist ja das Verrückte.“
Lennard setzt die Bierflasche erneut an.
„ Ich habe mit der Zeit aufgehört, mich darüber zu wundern“, fährt Oskar fort. „Das einzige, was mich interessiert, ist, wie ich diese Gedanken loswerde. Und das kann ich nur, wenn ich diesen Kerl endlich finde.“
„ Und du glaubst nicht, dass es der Typ war, den du suchst?“, fragt Lennard. Oskar kennt diesen Tonfall. Er weiß, dass er nicht viel von Oskars Beteuerungen über die seltsamen Eingebungen hält. Dennoch scheint er sich für ihn verantwortlich zu fühlen. Und ist es nicht das, was eine wahre Freundschaft ausmacht?
„ Ich hab zumindest keine Ahnung, wie ich es beweisen soll, ohne mich selbst in eine unangenehme Lage zu bringen“, sagt er.
„ Ich sag’s dir nur ungern, Oskar.“ Lennard lächelt skeptisch. „Aber du bist bereits in einer unangenehmen Lage.“
Oskar schweigt.
„ Außerdem. Wer sagt dir, dass dein seltsamer Zustand beendet ist, wenn du jemanden findest, dem du die Schuld daran geben kannst?“
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Nur zwanzig Meter von der Hintertür bis zum Teich im Garten. Doch eine gefühlte Ewigkeit, die er braucht, um ihn zu erreichen. Jede Bewegung scheint mechanisch, jeder Schritt wie in Trance. Die Gedanken haben ihn zum ersten Mal aus dem Schlaf gerissen. Ein Traum, der ihn aufweckte, um sich im Wachzustand fortzusetzen. Liliana. Schlafend vor seinen Augen. Keine Regung. Nur Frieden in jedem Atemzug. Und der immer wiederkehrende Gedanke: Warum hat sie das getan? Sie macht alles kaputt.
Er versucht zu verstehen. Hatte sie Kenny angedroht, ihn zu verlassen? Waren das seine Gedanken, als er seine schlafende Freundin beobachtete? Ein grausamer Plan, den er in diesem Moment zum ersten Mal in Betracht zog?
Er setzt sich auf die kleine Bank neben dem Teich und lässt seine Hand ins Wasser gleiten. Der Zipfel seines Morgenmantels wird nass, während er sich herunterbeugt. Er wirft sich einen Schwung Wasser ins Gesicht und richtet sich wieder auf. Was ist der nächste Schritt? Immer wieder dieselbe Frage und immer wieder dasselbe Scheitern an einer Antwort. Was ist mit Tanja Bruckheimer? Kann sie ihm vielleicht doch weiterhelfen? Vielleicht sollte er ihr von seiner Begegnung mit Kenny Lasner berichten.
Ein weiterer Schwung Wasser ins Gesicht. Warum hat sie das getan? Sie macht alles kaputt.
Kapitel 6: Die Suche
Er fragt sich, wann er das letzte Mal im Zimmer eines Schuldirektors war. Vor 35 Jahren? Oder 36? Er kann sich nicht daran erinnern, sich je bei einer weiblichen Direktorin vorgestellt zu haben. Herr Mueller-Losch, schon damals aus der Perspektive eines jungen Schülers steinalt und Verantwortlicher für das Gymnasium, das Oskar besuchte, stellte in resolutem Auftreten und unbarmherziger Strenge das typische Oberhaupt einer Schule dar. Auf gewisse Weise fand Oskar ihn damals Angst einflößend, auch wenn er das in Gegenwart seiner Mitschüler, wann immer er nach einem Streich auf der Mädchentoilette oder dem heimlichen Rauchen hinter der Sporthalle wieder mal in sein Büro zitiert worden war, nie zugegeben hätte.
Tanja Bruckheimer erinnert ihn weder an das typische Bild eines solchen Oberhauptes, noch scheint sie, weder aus der Perspektive eines 13jährigen Schülers noch aus der eines 48jährigen Autors, steinalt. Viel eher macht sie den Eindruck, eine Nachwuchslehrerin in ihren Anfangsjahren zu sein,
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