Der verschlossene Gedanke
auch wenn sie das Alter dafür bereits überschritten hat. Ihr eher zurückhaltendes Auftreten hat dennoch irgendwie etwas Mädchenhaftes.
Sie füllt zwei Tassen Kaffee, als Oskar auf dem Ledersofa vor einer Bücherwand Platz nimmt.
„ Ich hatte doch gesagt, dass Sie mich anrufen sollen.“ Sie reicht ihm eine Tasse, während sie sie sich mit der anderen in einen der Sessel setzt.
„ Im Grunde gab es ja nichts zu erzählen“, antwortet Oskar. „Außerdem dachte ich, dass ein persönliches Gespräch klüger wäre.“
„ Klüger würde ich das nicht unbedingt nennen. Ihre Anwesenheit erregt nur unnötige Aufmerksamkeit im Kollegium.“
„ Tatsächlich?“
„ Frau Tahlmann, unsere Sekretärin, hat sie wieder erkannt und seltsame Fragen gestellt, die ich nicht so leicht beantworten konnte.“
Oskar versucht, sich zu erinnern. „Ich weiß. Mein erster Besuch in ihrem Sekretariat, als ich auf der Suche nach Ihnen war. Ich habe mich etwas merkwürdig verhalten, das gebe ich zu.“
„ Merkwürdig trifft es wohl ziemlich genau.“ Sie nimmt einen Schluck von ihrem Kaffee und stellt die Tasse auf dem Glastisch vor dem Sofa ab. „Sie meinte, Sie hätten herumgestammelt, von Liliana gesprochen und nach mir gefragt, ohne den Eindruck zu erwecken, mich überhaupt zu kennen.“
„ Ich kannte Sie ja auch nicht.“
„ Erzählen Sie mir von Ihrem Besuch“, sagt sie schließlich. „Haben Sie ihn angetroffen?“
„ Ich habe kurz mit ihm gesprochen, ja. Aber es war nicht sehr aufschlussreich. Er meinte, dass er und Liliana sich schon vor drei, vier Wochen getrennt hätten. Außerdem war er ziemlich unhöflich.“
Sie reibt sich mit dem Zeigefinger über das Kinn. „Vor drei, vier Wochen? Das ist unmöglich.“
„ Wieso?“
„ Weil ich noch vor nicht mal zwei Wochen mit Lilli gesprochen habe und da hat sie zum ersten Mal überhaupt darüber nachgedacht, ihn zu verlassen. Und glauben Sie mir, wenn Lilli über etwas nachdenkt, dauert es noch einmal einige Zeit, bis sie es auch tatsächlich in die Tat umsetzt. Sie ist in ihren Entscheidungen eher wankelmütig.“
„ Sie meinen, er lügt?“
„ Ich weiß nicht. Möglich wäre es. Vielleicht hat er etwas zu verbergen.“
Ihm wird die Selbstverständlichkeit bewusst, in der sie miteinander reden. Über diesen Mann. Über Liliana. Als wären sie Verbündete auf einer Suche, an deren Ende für beide dasselbe wartet.
„ Er hat sich sehr seltsam verhalten und war äußerst kurz angebunden“, sagt Oskar. „Außerdem hat er ziemlich abfällig über Liliana geredet. Nannte sie Flittchen.“
„ Flittchen?“
Oskar nickt. „Er scheint über ihr Verschwinden zumindest nicht sehr traurig zu sein.“
„ Er ist ein Mistkerl, nichts weiter“, antwortet sie. „Und verlassene Mistkerle reden immer so.“
Noch während das Wort Mistkerl in der Luft hängt, fällt es ihm ein. Die Frau am Fenster von Lilianas Wohnviertel. Hatte sie nicht etwas von zwei Wochen gesagt, die Liliana nun schon nicht mehr in ihrer Wohnung war? Und der Besuch bei ihrer Mutter?
„ Eine Nachbarin von Liliana meinte, dass sie bei ihrer Mutter in Aachen ist. Zumindest dass das ihr Freund behauptet hat.“
„ In Aachen?“ Sie überlegt. „Aber ihre Mutter ist seit über zehn Jahren tot. Ihren Vater hat sie bereits als junges Mädchen verloren. Soweit ich weiß hat sie gar keine Verwandten mehr. Zumindest niemanden, mit dem sie in Kontakt steht.“
„ Aber das würde bedeuten ...“
„ Dass jemand lügt. Sind Sie sich sicher, dass sie Aachen gesagt hat?“
„ Sie war selbst skeptisch und meinte, dass das nur eine Ausrede von ihm ist, um zu vertuschen, dass sie ihn verlassen hat. Und dass sie sie seit zwei Wochen nicht gesehen hat.“
„ Zwei Wochen“, wiederholt sie leise.
Er erkennt die Sorge in ihrem Blick. Was für einen Sinn ergeben die Informationsfetzen? Die Worte der Nachbarin? Kennys Verhalten an der Tür?
„ Ich finde das alles sehr verwirrend“, sagt er.
„ Nicht verwirrender als die Tatsache, dass wir beide uns unterhalten, ohne uns wirklich zu kennen, Herr Holstein.“
Er lächelt. „Sie haben recht.“
Sie erwidert sein Lächeln. Zum ersten Mal erkennt er, wie hübsch sie ist. Wieder erinnert sie ihn auf seltsam vertraute Weise an Liliana. Die weiche Haut. Das dunkle Haar, das aus dem akkurat geformten Dutt ausbrechen zu wollen scheint. Mit zunehmender Bereitschaft, sein Anliegen ernst zu nehmen, bröckelt ihre Fassade der distanzierten Fremden. Beinahe
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