Der verschlossene Gedanke
hat er Tanja erzählt? Und was den Beamten? Wie stimmen seine geäußerten Vermutungen auf dem Revier mit den Dingen überein, die er Kenny an den Kopf geworfen hat?
Er beginnt, den Überblick zu verlieren. Die Version mit der Lesung, auf der er Liliana kennen gelernt hat, ist im Moment bei allen Beteiligten dieselbe. Er glaubt sie mittlerweile sogar selbst. Aber was ist mit der Äußerung seiner Vermutung, die Leiche im Maisfeld könnte Liliana Falkner sein? Tanja hat er bisher nichts davon erzählt. Wie wird sie reagieren? Und wie lange wird er sein Wissen für sich behalten können?
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„ Ich bin aufs Revier gebeten worden.“
„ Man hat sich bei Ihnen gemeldet?“
„ Ja, genau wie ich befürchtet habe.“
„ Machen Sie sich keine Sorgen. Sagen Sie einfach das, was Sie wissen. Um den Rest kümmern sich die Beamten.“
„ Was, wenn sie meinen Mann befragen? Was, wenn sie mehr wissen wollen?“
„ Dann sagen Sie ihnen mehr.“
„ Ich mag keine Gespräche dieser Art.“
„ Manchmal sind sie unumgänglich. Oder haben Sie inzwischen wieder etwas von Lilli gehört?“
„ Nein.“
„ Na, sehen Sie. Dann wird es Zeit, dass die Polizei ihre Arbeit erledigt. Wann haben Sie den Termin?“
„ Morgen Vormittag.“
„ Sie packen das.“
„ Gibt es bei Ihnen Neuigkeiten?“
„ Ja, die gibt es tatsächlich.“
„ Wirklich?“
„ Ich habe einen neuen Brief bekommen. Dieselbe Handschrift wie der erste.“
„ Was stand drin?“
„ Er will sich mit mir treffen. Er schreibt, dass er etwas hat, das mich endlich auf den richtigen Weg führen wird. Damit ich ihn endlich in Ruhe lasse.“
„ Klingt merkwürdig.“
„ Das fand ich auch.“
„ Haben Sie der Polizei davon erzählt?“
„ Nein, ich habe den Brief gerade erst gefunden.“
„ Dann behalten Sie es lieber für sich. Die Polizei würde ihn sicher nur verschrecken.“
„ Ich hatte auch nicht vor, damit hausieren zu gehen, zumindest nicht, bevor ich mich mit ihm getroffen habe. Ich frage mich nur, ob die Beamten bereits Kontakt zu ihm aufgenommen haben oder ob er noch im Ungewissen ist.“
„ Sicher will er sich deswegen mit Ihnen treffen.“
„ Möglicherweise.“
„ Und? Werden Sie sich darauf einlassen?“
„ Ich denke schon. Ich habe zu lange nach Antworten gesucht, um jetzt irgendeine Chance ungenutzt zu lassen.“
„ Herr Holstein?“
„ Ja?“
„ Verraten Sie mir bitte noch eines.“
„ Was?“
„ Warum suchen Sie so händeringend nach Lilli?“
„ Ich suche nicht nach Lilli. Ich suche nach Antworten.“
Seine Hand ruht noch einige Sekunden nach dem Auflegen auf dem Hörer. Sie macht sich Sorgen um ihn. Gleichzeitig ist ihre Verwunderung über sein Interesse an Liliana unverkennbar. Er kann es ihr nicht mal verübeln. Wie sollte sich seine Suche auch erklären, wenn nicht mit der Wahrheit?
Er greift nach dem Zettel in seiner Hosentasche. Ein weiterer Blick.
Ich habe etwas, das dich auf den richtigen Weg bringen wird. Komm heute Abend um Sieben zum Hochsitz. Dort, wo du neulich schon herumgeschnüffelt hast. Ich möchte dir etwas zeigen. Vielleicht lässt du mich dann endlich in Ruhe.
Er schiebt ihn in die Schreibtischschublade und verharrt eine Weile in dieser Position. In seinem Arbeitszimmer, in dem er so viele Stunden zwischen Ideen, Figuren und Fantasieorten verbracht hat. Es scheint ihm, als wäre nichts mehr davon übrig. Nur noch eine Fassade, eine leere Hülle ohne Inhalt. Das Arbeitszimmer genau wie er.
Er spürt einen Gedanken aufflammen. Jetzt wird es nicht mehr lange dauern. Der Blick, der nicht seiner ist, auf den Boden des Feldes gerichtet. Schritte, die voranschreiten, ohne anzukommen. Keuchender Atem. Nur noch ein paar Meter. Jetzt werden es alle erfahren.
Noch bevor er sich mit dem Gedanken vertraut machen kann, verschwindet er wieder. Jetzt werden es alle erfahren. Ob es ein aktueller Gedanke ist? Ob Kenny bereits am Treffpunkt ist? Oder war es eine Vision aus der Zukunft? Im Grunde ist es egal. Oskar hat keine andere Wahl. Jede Chance auf Wiederherstellung seines Ursprungszustandes muss genutzt werden.
Noch immer hat er die Hoffnung, dass ihn eine Aufklärung des Falls auch von den Gedanken befreien wird. Er muss ihn treffen. Noch heute Abend. Was auch immer er beabsichtigt, ihm zu offenbaren, es wird ihm weiterhelfen. Dessen ist er sich sicher. Er ist nicht mal mehr fähig, Angst zu haben. Was kann ihm schon geschehen? Und was könnte schlimmer
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