Der verwaiste Thron 02 - Verrat
nach Westfall war noch irgendwo auf dem Wasser. Erys erwartete es jeden Tag, doch bisher war es noch nicht aufgetaucht. Nur das nach Charbont, einer Handelsstadt südlich von Westfall, lag im Hafen.
Erys hatte ihr ein eigenes Quartier gegeben, einen Verschlag neben dem Eingang der Stallungen, in dem früher vielleicht einmal Sattel und Zaumzeug gehangen hatten. Er war gerade groß genug, um sich auszustrecken, aber Ana störte das nicht. Zum ersten Mal, seit sie Somerstorm verlassen hatte, gab es wieder eine Tür, die sie hinter sich schließen, einen Raum, in dem sie unbeobachtet sein konnte.
Marta und Hetie schliefen weiterhin in einer Zelle, ebenso wie die anderen Sklaven. Ana hatte angefangen, sie so zu nennen, obwohl sie den Begriff ihnen gegenüber vermied. Sie wusste, dass die anderen hofften, von ihr gerettet zu werden. Vielleicht gelingt mir das sogar , dachte sie.
Ana setzte sich auf. Sonnenlicht fiel durch Spalten in den Holzwänden ihres Verschlags. Es war warm. Der Geruch nach Leder und süßen Blüten hing in der Luft. Geschirr klirrte. Anscheinend wurde draußen vor ihrer Tür bereits das Mittagessen vorbereitet, aber Ana verspürte nicht den Drang aufzustehen. In der kleinen Festung verging jeder Tag mit der gleichen öden Langsamkeit: Man stand auf, wusch sich in Zubern mit Flusswasser, aß Fisch und dunkles Brot, danach begannen die Frauen, die zum Kochen eingeteilt waren, mit ihrer Arbeit, während die anderen vor den Stallungen mit Schwertern und Speeren übten. Am ersten Tag hatte Ana gefragt, ob sie mitmachen könne, aber Erys hatte es verboten. Zu gefährlich, hatte sie gesagt.
Doch auch bei den Köchinnen war Ana nicht willkommen. Sie brachen ihre Gespräche ab, wenn sie sich zu ihnen setzte, und senkten die Köpfe. Sie erinnerten Ana an Sklaven, die zum ersten Mal an einem Fürstenhof dienten und sich von Reichtum und Titeln einschüchtern ließen. Selbst Merie wirkte verkrampft, seit sie wusste, wer Ana war. Nur Nungo'was schien das nicht zu kümmern. Er behandelte sie nicht anders als zuvor.
Es klopfte an der Tür des Verschlags. »Ana?«, fragte Purro. Durch die Spalte sah Ana Bartstoppeln und Haut. Unwillkürlich zog sie die Decke über ihre nackten Schultern.
»Ja?«
»Erys will dich sprechen.«
»Sag ihr, ich komme, sobald ich mich fertiggemacht habe.«
Purro antwortete nicht. Sein Gesicht verschwand, dann hörte Ana ihn weggehen. Er war wortkarg und hielt sich aufrecht wie ein Soldat. Für Erys schien er zugleich Diener und Vertrauter zu sein. Ana hatte den Eindruck, dass er mehr für sie empfand als sie für ihn.
Sie streifte ihr Hemd über, faltete die Decke zusammen, unter der sie geschlafen hatte, und zog den Holzriegel, der die Tür verschloss, aus seiner Halterung. Es war ein lächerliches Schloss, das ein Mann wie Purro mit einem Tritt hätte aufsprengen können, aber es gab ihr Sicherheit.
So viel Sicherheit wie Jonan? Wie so oft bemerkte sie zu spät die Falle, die ihr Geist ihr gestellt hatte. Doch sie drängte den Gedanken beiseite, so wie das Leben, das sie mit Jonan geteilt hatte. Es war nicht mehr das ihre. In diesem Leben war sie Penya gewesen, ein Niemand, gehetzt wie ein Tier und beschützt von einem Tier. Doch nun war sie wieder Ana, die rechtmäßige und zukünftige Fürstin von Somerstorm – und wenn es die Götter wollten, auch eines Tages Fürstin von Westfall, an Rickards Seite. Tiere spielten in diesem Leben keine Rolle mehr.
Von draußen drangen Kampfgeräusche in den Stall, das dumpfe Aufeinanderschlagen hölzerner Übungsschwerter und das Keuchen der Kämpfenden. Gelegentlich rief Purro einen kurzen Befehl. Er war einer der Ausbilder, lehrte vor allem die erfahrenen Kämpferinnen, wie Ana inzwischen herausbekommen hatte. Sie hatte ihn schon einige Male fragen wollen, welchem Fürsten er gedient hatte, es aber nie gewagt. Purro verhielt sich ihr gegenüber abweisend und kühl.
Fünf Frauen, die um einen Tisch saßen und Fische ausnahmen, nickten ihr zu. Sie warfen die Köpfe und Innereien in einen Eimer. Fliegen kreisten darüber. Dutzende trübweißer Augen schienen Ana anzustarren, als sie an den Frauen vorbeiging. Sie warteten einen Moment, dann nahmen sie ihre Unterhaltung wieder auf. Sie sprachen über das Wetter, über die Stände auf dem Markt und über den Preis von Weizen. Ihre Schwerter lehnten hinter ihnen an der Wand.
Ana verließ die Stallungen durch die Hintertür und betrat den Gemüsegarten. Es war still. Niemand benutzte die
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