Der verwaiste Thron 03 - Rache
der Flucht getrennt.«
Ich habe ihn weggeschickt , dachte sie. Damals hatte sie nicht begriffen, weshalb er sie belogen, ihr nicht gesagt hatte, dass auch er ein Nachtschatten war. Heute verstand sie es. Die Ana von früher erschien ihr wie eine Fremde, wenn sie an sie dachte.
Merie wickelte ein Stück Käse in Stoff ein und steckte es in einen Rucksack. »Wird er uns helfen?«
»Natürlich wird er das, aber wir müssen auch ihm helfen. Das Lager ist groß. Er wird uns nur finden, wenn wir entgegenkommen. Deshalb müssen wir fliehen.«
»Und dann?«, fragte Merie.
»Dann wird er uns beschützen. Er gehört zum Orden der Trauernden Klingen. Weißt du, was das ist?«
Zu Anas Überraschung nickte ihre Zofe. »Dort werden Verbrecher aufgenommen, die ihre Taten bereuen, und zu Leibwächtern gemacht. Als ich klein war, hatte ich einen Leibwächter vom Orden. Er sagte mir, er habe zehn Leute umgebracht.«
»Du hattest einen Leibwächter?«
»Früher ja, aber dann nicht mehr.« Merie verschnürte den Rucksack und stellte ihn neben sich. Angeblich war ihre Familie nicht wohlhabend, aber sie konnte lesen und schreiben, und nun behauptete sie auch noch, einen Leibwächter gehabt zu haben. Das passte nicht zusammen.
»Dann weißt du ja, wie gut sie sind«, sagte Ana nachdenklich. Sie sah auf, als Schatten über die Zeltwand glitten. »Wachwechsel«, flüsterte sie. »Fang an zu zählen.«
»Eins, zwei, drei …« Merie gab den Rhythmus der Zahlen mit dem Fuß vor.
Ana zog sich eine Jacke aus Ziegenleder über, die Erys ihr geschenkt hatte, dann band sie ihre Decke mit Kordeln zusammen. Sie warf einen kurzen Blick auf ihr Gepäck. Decken, ein Rucksack voll mit Brot und Käse, ein Schlauch mit verdünntem Wein. Waffen hatten sie keine. Die Gardisten bewachten die Karren, in denen Schwerter und Speere transportiert wurden, sorgfältig.
»Dreihundertneunundneunzig, vierhundert.« Merie zählte lautlos weiter.
Ana lauschte in die Nacht hinein, zählte in Gedanken mit. Bei vierhundertzehn hörte sie endlich die Schritte der Patrouille, die an ihrem Zelt vorbeiging.
Sie atmete auf. Wenn die Wachen den Rhythmus der letzten Nächte beibehielten, würde die nächste erst bei achthundert auftauchen.
»Zähl weiter bis fünfhundert«, flüsterte sie, »dann geht es los.«
Merie schien der Atem zu stocken. Mit zitternder Stimme zählte sie weiter. »Vierhundertzehn, vierhundertelf …«
Ana schob ihr Lager beiseite und hockte sich an die hintere Zeltwand. In den Nächten zuvor hatte sie den Hering, der dort im Boden steckte, so weit gelockert, dass sie ihn mühelos herausziehen konnte. Die Spannung des Stoffs ließ nach. Sie legte sich auf den Boden und hob ihn an.
Kühle Nachtluft strich über ihr Gesicht. Nur wenige Zelte waren erleuchtet, die anderen lagen grau unter dem sternenklaren Himmel. Dahinter gab es nichts als Schwärze.
»Vierhundertneunundneunzig, fünfhundert.« Merie hörte auf zu zählen.
Ana drehte den Kopf in ihre Richtung. »Niemand zu sehen«, flüsterte sie. »Komm.«
Merie blieb auf dem Teppich sitzen. »Kann ich nicht hierbleiben?«, fragte sie. Ihre Stimme war so dünn, dass sie nicht flüstern musste. »Ich bin unwichtig. Mir tut doch niemand was.«
»Wenn ich fliehe, wird Cascyr dich umbringen«, antwortete Ana mit all dem Nachdruck, den sie aufbringen konnte. Sie hatte geahnt, dass das passieren würde. »Du hast nicht verraten, was ich vorhabe. Für ihn bist du eine Verräterin. Du hast keine andere Wahl, als mitzukommen.«
Merie zog die Knie an. Sie wirkte trotzig. »Sagt Ihr das nur, weil Ihr nicht das ganze Gepäck tragen wollt, Herrin?«
Ana lächelte, dann wurde sie wieder ernst. »Ich sage das, weil ich nicht will, dass du stirbst.« Es sind schon zu viele für mich gestorben , dachte sie.
Merie zögerte, dann schlang sie sich den Rucksack über die eine Schulter und den Wasserschlauch über die andere.
Ana hielt den Zeltstoff hoch, damit sie darunter hindurchkriechen konnte. Sie schätzte, dass sie fast bei siebenhundert waren. Die nächste Patrouille war nicht mehr weit entfernt.
Ana nahm die Decken und kroch aus dem Zelt. »Kriech weiter«, flüsterte sie Merie zu. »Nicht aufstehen.«
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie endlich den Weg verließen. Ana war erleichtert, als sie Gras unter den Handflächen spürte. In einiger Entfernung hörte sie das Plätschern des Flusses. Er befand sich rechts von ihr, die Weiden der Pferde lagen hinter ihr, der Rest des Lagers
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