Der verwaiste Thron 03 - Rache
sind noch zu nahe am Dorf. Wir können jetzt nicht rasten.«
»Es geht um Merie.«
Jonan zügelte sein Pferd, wartete, bis Merie und Ana herangekommen waren. »Lass mich mit ihr reden«, sagte er dann.
Ana nickte und ließ sich zurückfallen.
»Weißt du, was du bist?«, hörte sie Jonan fragen. Sie war erstaunt, wie sanft seine Stimme klang.
Merie schüttelte den Kopf.
Ana sorgte dafür, dass sich der Abstand zwischen ihr und den beiden vergrößerte, sodass sie nur noch die Stimmen hören, aber die Worte nicht mehr verstehen konnte. Worüber die beiden redeten, ging sie nichts an.
Sie sprachen lange miteinander. Die Sonne ging unter, beide Monde stiegen auf, aber Ana ritt immer noch hinter ihnen her. Sie sah, wie sich Merie entspannte, wie ihr Rücken runder wurde und ihre Hände sich locker auf den Sattelknauf legten.
Ich habe noch nie so lange mit ihm geredet , dachte Ana. Ein Teil von ihr war neidisch – neidisch, mahnte sie sich selbst, nicht eifersüchtig. Die beiden teilten etwas, das ihr verwehrt blieb, auch wenn es etwas Schreckliches war.
Es war eine helle Nacht. Ana betrachtete die Landschaft, die sich silbergrau unter dem Licht der Monde erstreckte. Aus Feldern wurden Weiden, dann Wiesen mit wild wachsenden Sträuchern und Bäumen. Das Dorf lag weit hinter ihnen. Die Straße führte durch das flache Land nach Norden, aber Ana nahm an, dass sie irgendwann nach Westen abknicken und in der Hafenstadt Bochat enden würde.
Ihr Vater war einige Male nach Bochat gereist, um Sklaven aus dem Südland zu kaufen und für den doppelten Preis in Charbont oder Westfall zu verkaufen. Rückblickend fragte sie sich, warum er das getan hatte, da doch die Mine mehr Gold abgeworfen hatte, als er je hätte ausgeben können.
Weil es das Wort genug für ihn nicht gab , dachte sie und schloss die Augen.
Als Ana sie wieder öffnete, ritt Jonan neben ihr.
»Ich wollte dich nicht wecken«, sagte er.
Ana streckte sich. Ihre Schultern knackten. Die Hand, die sie auf den Sattelknauf gelegt hatte, war eingeschlafen und kribbelte, als sie die Finger bewegte.
Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen. Merie ritt vor ihr. Die beiden Pferde, die sie an ihres gebunden hatte, trabten mit hängenden Köpfen hinter ihr her.
»Wie geht es ihr?«, fragte Ana leise.
»Sie tut, was sie kann.« Jonan räusperte sich. »Sie hat sich vor letzter Nacht noch nie verwandelt. Ich wollte sie nicht fragen, ob sie schon …« Er zögerte. »Ob sie eine …«
»Eine Frau ist?«, riet Ana.
Jonan nickte.
»Ja, seit vorgestern. Hat das etwas mit ihrer Verwandlung zu tun?«
»Vielleicht.« Er unterdrückte ein Gähnen. »Ich weiß nicht viel darüber.«
»Aber du bist doch selbst ein …« Dieses Mal war es Ana, die zögerte.
Jonan vollendete den Satz für sie. »Nachtschatten.«
Dann schwieg er. Sie drängte ihn nicht weiter. Ruhig ritten sie nebeneinander her. Die Geräusche der Nacht hüllten sie ein. Irgendwo schrie ein Vogel, ein anderer antwortete. Zweige knackten, kleine Tiere huschten über die Straße. Die Pferde trabten voran.
»Mein Vater«, sagte Jonan so unvermittelt, dass Ana erschrak, »war ein Nachtschatten. Er starb vor meiner Geburt. Meine Mutter wusste, was er gewesen war, aber sie sagte mir nichts. Sie dachte wohl, sie habe noch Zeit.« Jonan drehte den Kopf, als hätte er etwas gehört, dann sah er Ana an. »Ich habe mich zweimal in meinem Leben verwandelt. Beim zweiten Mal warst du dabei.«
»Und beim ersten?«, fragte Ana, unsicher, ob sie die Antwort wirklich hören wollte.
»Brachte ich meine Mutter um.« Seine Worte klangen ruhig, beinahe nebensächlich, aber sie trafen Ana wie ein Schlag.
Sie wollte etwas sagen, etwas tun, ihn umarmen oder trösten, aber egal, welche Idee ihr auch kam, sie erschien ihr dumm und unangemessen.
Jonan schien keine Reaktion zu erwarten. »Als ich wieder ich selbst wurde«, sagte er, »suchte ich den Orden auf. Ich dachte daran, mich umzubringen, aber ich hatte Angst, der Versuch würde das Monster hervorbringen. Im Orden lehrte man mich, es zu unterdrücken.«
»Wie alt warst du?«, fragte Ana.
»In Hala'nar zählen wir die Jahre nicht. Ich denke, etwas jünger als dein Bruder.«
Sie ergriff seine Hand. Er zog sie nicht weg.
Der erste Mond versank hinter dem Horizont. Die Nacht wurde dunkler.
»Weiß Merie davon?«, fragte Ana nach einer Weile.
»Nein. Ich wollte ihr nicht noch mehr Angst machen. Sie weiß, dass sie nachts nicht schlafen sollte, weil das Tier in der
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