Der Visionist
hast du mir das nicht früher ge sagt?“
„Es steht alles in den Papieren …“
„… auf meinem Schreibtisch, ich weiß. Verrückter Zufall, nicht?“
„Ja, und da niemand außer Comley, mir und deinem Schreibtisch davon wissen, ist es einfach nur ein weiterer Zufall, dass wir ausgerechnet hier in diesem Hotel gelandet sind.“ Lucian brach ein Stück des mürben Croissants ab und aß es. „Schmeckt hier wirklich besser, nicht wahr?“
„Der Kaffee auch. Also dachte Lennox, Hypnos wäre so ein Erinnerungswerkzeug? Glaubst du, dass Shabaz ihn deshalb haben wollte? Wir müssen herausfinden, ob er irgendwelche Verbindungen zu Malachai Samuels hat.“
Lucian biss wieder in sein Croissant. Er musste überlegen,wie er antworten sollte, denn seine Antwort durfte sich nur auf Fakten beziehen, auf die sie im Rahmen ihrer Ermittlungen gestoßen waren, und keine der Informationen aus seinen seltsamen Hypnosesitzungen bei Iris Bellmer. In seinen Erinnerungen konnte er die Schätze in der Gruft nicht sehen; er wusste nicht, ob Hypnos dort war. Er konnte nur seine eigenen Handlungen als Fouquelle sehen und die entsetzten Gesichter des Ehepaares, dem das Haus gehörte.
„Ich glaube nicht, dass Malachai Samuels über all das Bescheid wissen konnte, bevor Elgin Barindra Lennox’ Briefe an Talmage gefunden hat.“
„Irgendwelche Hinweise, was dieses Erinnerungswerkzeug sein soll?“
„Gar keine. Malachai geht sicher schon die Wände hoch.“ Lucian musste schmunzeln.
Matt trank seinen Kaffee aus und beobachtete seinen Partner über den Rand seiner Kaffeeschale. Dann fragte er: „Und was ist sonst mit dir los?“
„Keine Ahnung, wovon du redest.“
„Wir arbeiten seit fünf Jahren zusammen. Du steckst immer bis über beide Ohren in Arbeit, lenkst dich damit von deinen Dämonen ab. Das kann ich nachvollziehen, machen ja viele von uns so. Ich will mich nicht in deine Angelegenheiten mischen, aber in diesem Job steckst du viel tiefer drin als sonst. Alles in Ordnung mit dir? Ich meine, wirklich?“
„Alles bestens.“
„Du verheimlichst doch was.“
„Kennst du mich denn nicht gut genug, um zu wissen, dass ich nie etwas verheimlichen würde, wenn es wichtig ist für den Fall, an dem wir arbeiten?“
„Ich rede nicht von unserem Fall. Ich rede von dir. Was ist los mit dir? Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel gesehen? Du siehst völlig erschöpft aus. Besorgt. Du zeichnest ständig. Ich weiß, dass es ein Spleen von dir ist, aber es wirkt schonzwanghaft. Du knallst dir Schmerztabletten rein wie Smarties. Was zum Teufel ist los mit dir?“
„Außer den Kopfschmerzen … ist es nur die Arbeit. Wir stehen kurz vor der Beendung von einem, vielleicht zwei Fällen. Wir machen unseren Job. Wir retten Gemälde. Ist nur die Arbeit.“
„Quatsch. Du hast Geheimnisse, mein Freund. Mehr als vorher, und das bedeutet etwas. Und du steckst deswegen irgendwie in Schwierigkeiten.“
Lucian hätte ihm am liebsten alles erzählt. Es wäre eine Erleichterung, über die seltsamen Träume und Zeichnungen zu sprechen, über seine Reinkarnationssitzungen und die entsetzlichen Albträume. Ihm von Emeline zu erzählen und von dieser verrückten Idee, gegen die er ankämpfte und die ihm gleichzeitig so wichtig war – dass sie und Solange miteinander verbunden waren. Lucian vertraute Matt. Bei einem Einsatz würde er ihm sogar mit seinem Leben vertrauen.
Doch er sagte nur: „Wir müssen los“, stand auf und wischte sich Croissantkrümel von den Händen. Irgendwann würde er mit Matt darüber reden und ihm zeigen, durch welche Hölle er in den letzten Wochen gegangen war. Doch jetzt war nicht der richtige Moment dafür.
55. KAPITEL
Ein französisches Dienstmädchen in einer schlichten schwarzweißen Uniform führte die beiden Agenten durch den Eingangsbereich des Apartments an der Avenue de New York, als erwarte der Gastgeber sie zum Tee. Doch der Zweck ihres Besuchs stand im scharfen ironischen Gegensatz zur exquisiten Schönheit des hohen Raumes mit seiner kunstvollen Stuckdecke und den breiten Fenstern mit Blick auf die Seine. Lucian trat mit schmutzigen Straßenschuhen auf einen Aubussonläufer in Gelb-, Beige- und Blautönen, der mehr wert war, als er in einem Jahr verdiente. Die antiken Möbel und Gemälde im Raum hätten jedem Museum Ehre gemacht.
Darius Shabaz stand auf, als die Agenten eintraten. Begrüßt wurden sie allerdings von einem übergewichtigen Mann mit schütter werdendem Haar und einer dicken
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