Der Visionist
schaden wir ihnen.“
Ein Muskel zuckte in Malachais Kiefer. „Wenn Sie Ryan nicht anrufen, dann werde ich es tun.“
„Soll das eine Drohung sein?“
Malachai holte tief Luft. Es war offensichtlich, dass er sich sehr zusammenreißen musste. Aber was ging ihm durch den Kopf? Unterdrückte er einen Wutanfall, auch wenn Iris nochnie gesehen hatte, wie er die Kontrolle über sich verlor? Oder überlegte er sich schon eine andere Taktik, wie er sie doch noch überzeugen könnte?
„Sie haben natürlich recht“, sagte er schließlich in einem besänftigenden Tonfall, als wolle er nun sie beruhigen. Er trat weg vom Fenster und setzte sich ihr gegenüber an den Schreibtisch, er lehnte sich in dem Sessel zurück und lächelte sie an. Es war sein spezielles, seltsames Lächeln, bei dem sich nur seine Mundwinkel hoben, doch das Lächeln nie die Augen erreichte. Es ließ ihn grausam und fast unmenschlich erscheinen, wenn er dieses Lächeln aufsetzte.
„Es tut mir leid, Iris. Habe ich Sie erschreckt?“
„Ein bisschen schon, ja.“
„Die Sache liegt mir wirklich am Herzen.“
Sie nick te.
„Sie brauchen Ryan nicht anzurufen. Vergessen Sie das.“
Iris war erleichtert, doch dann sagte Malachai ihr, was er stattdessen von ihr wollte. „Geben Sie mir einfach die Bänder mit den Aufnahmen von Ihren Sitzungen mit ihm, dann höre ich mir seine Erinnerungen aus den früheren Leben an. Vielleicht finde ich ja darin etwas, das uns weiterhilft. Und dann reden wir noch einmal über die Sache.“
„Ich habe keine Erlaubnis von James, dass ich die Aufnahmen seiner Sitzungen jemandem anderen vorspielen darf.“
„Dafür brauchen Sie seine Erlaubnis auch nicht. Ich bin der Vorsitzende der Phoenix Foundation und damit Ihr Vorgesetzter. Es widerspricht den Grundsätzen der ärztlichen Ethik nicht, wenn ich mir die Bänder anhöre.“
„Tut es das nicht? Ich bin mir da nicht so sicher.“
„Sie sind wirklich starrköpfig, wissen Sie das?“ Wieder lächelte Malachai sie auf diese seltsame Art an. Er legte die Hände auf die kunstvoll geschnitzten Holzlehnen des Sessels und befühlte die Löwentatzen an ihren Enden. Einen Momentlang betrachtete er die Schnitzereien, dann schaute er zu ihr hoch. „Wissen Sie, dieser Sessel steht schon in diesem Haus, seit sich die Phoenix Foundation hier um 1840 zum ersten Mal versammelt hat. Damals hat mein Urururonkel den Entschluss gefasst, sich intensiv mit Reinkarnation zu befassen. Alle waren fasziniert von der Idee – Walt Whitman, Bronson Alcott, Ralph Waldo Emerson, Frederick Law Olmsted …“ Er sprach die Namen der Gründungsmitglieder des Phoenix Clubs aus, als wären sie Musik. „Henry Rice Billings, Frederick L. Lennox …“ Malachai nahm eine der Schneekugeln, die auf Iris’ Schreibtisch standen, die mit der ägyptischen Pyramide. Er schüttelte sie und schaute gebannt zu, wie die Sandkörner – in der Kugel waren keine Schneeflocken – durcheinanderwirbelten, kurz im Wasser schwebten und langsam wieder zu Boden sanken.
„Vor über viertausend Jahren lebte im alten Ägypten ein Priester namens Imhotep, der die Menschen in einem Schlaftempel heilte. Haben Sie schon einmal die Geschichten über die wundersamen Heilungen gelesen, die er dort vollbrachte?“
Wieder schüttelte Malachai die Schneekugel, wirbelte den Sand darin auf und schaute zu, wie die Körner herumwirbelten, ein paar Momente im Wasser schwebten und wieder zu Boden rieselten.
„Nein.“
„Waren Sie schon einmal in Ägypten?“
„Ich war noch nie dort, nein. Meine Eltern haben mir diese Kugel mitgebracht. Ich wollte schon immer einmal nach Ägypten reisen.“
„Als ich dort war, habe ich mir die Ruinen der Schlaftempel angeschaut. Manchmal werden sie auch Traumtempel genannt. Die Priester versetzten die kranken Menschen in einen Trancezustand, durch eine Methode, die sich kaum von dem unterscheidet, was wir – Sie und ich – heute tun, wenn wir einen Patienten hypnotisieren.“ Wieder schüttelteer die Schneekugel. Die Körner wirbelten heftig herum, dann senkten sie sich wieder. „Damals waren es Priester, wir heute sind Psychologen. Doch wir haben dasselbe Ziel: Wir wollen Menschen helfen, die Schmerzen haben und leiden. Vor viertausend Jahren haben diese Priester mithilfe von Hypnose und religiösen Ritualen ihre Patienten in Trance versetzt, manchmal bis zu drei Tage lang, während sie ihre Götter um Heilung gebeten haben. Wir arbeiten mehrere Monate lang mit unseren Patienten und
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