Der Visionist
sich gewünscht hatten. Die Gemälde waren gerettet worden, der Hypnos in Sicherheit.
„Herzlichen Glückwunsch, Agent Glass! Der heutige Abend muss ein Höhepunkt in Ihrer Karriere sein! Sie haben dafür gesorgt, dass einige der wertvollsten gestohlenen Bilder des Jahrhunderts wieder in Sicherheit sind. Vielen Dank!“
Sie hatte recht. Er sollte glücklich sein über das, was Matt und er erreicht hatten. Doch das Verhör von Oliver Canton heute Nachmittag hatte jedes Glücksgefühl in ihm zunichtegemacht. Der Kunsthändler hatte ihnen schließlich die Namen seiner Komplizen genannt. Den einen hatte Lucian noch nie gehört; den anderen allerdings kannte er nur zu gut.
Nach dem Verhör hatte Matt Lucian gedrängt, mit ihm etwas trinken zu gehen. Matt hatte darüber reden wollen, was passiert war. Doch Lucian hatte abgelehnt. Er hatte sich im Büro vor seinen Computer gesetzt und so getan, als arbeite er. In Wirklichkeit aber hatte er nur auf den Monitor gestarrt und überlegt, wie in aller Welt er mit der neuen Information und was sie bedeutete umgehen sollte. Man hatte ihn zum Narren gehalten. Er hatte so sehr an etwas glauben wollen, dass er seine Glaubwürdigkeit, seinen verdammten Job, sogar seine Zurechnungsfähigkeit dafür riskiert hatte.
Er hatte sich zwingen müssen, heute Abend hierherzukommen – nicht um zu feiern, sondern um den Schuldigen zu konfrontieren. Seine für die New Yorker Kunstszene so typische Alltagskleidung – schwarze Jeans, schwarzes T-Shirt und schwarzes Jackett – hatte er heute gegen einen schwarzen italienischen Anzug getauscht. Das Einzige, was er nicht abgelegt hatte, war das Schulterholster mit der Glock.
An beiden Enden des Innenhofs waren Bars aufgebaut worden. Die eine schloss sich direkt an ein von Frank Lloyd Wright entworfenes Wohnzimmer an, das 1982 originalgetreu im Metropolitan Museum of Art rekonstruiert worden war.Hier hatten sich noch nicht allzu viele Gäste versammelt. Lucian war nicht im Dienst, deshalb bestellte er einen Wodka auf Eis. Während der Barkeeper den Drink zubereitete, starrte Lucian durch die Fenster hinaus ins üppige Grün des Parks. Die Erinnerung an Solange überkam ihn und mit ihr ein schon vertrautes Gefühl von Einsamkeit. Sie war der einzige Mensch gewesen, dem er vertraut hatte und den er wirklich hatte berühren können. Emeline hatte Solanges Geist wiedererweckt, sie hatte ihre Erinnerung mit Fleisch und Blut, mit Leben gefüllt. Es war ein fieser Trick gewesen. Solange hätte eine tote Erinnerung bleiben sollten. Selbst wenn er sie idealisiert hatte, so konnte eine idealisierte Erinnerung ihn wenigstens nicht verletzen.
Er konnte sie riechen, als stünde sie direkt neben ihm. Ihm kam es so vor, als hätte er als Erwachsener immer diesen Geruch in der Nase – entweder war die Luft wirklich erfüllt von dieser speziellen Mischung aus Maiglöckchen, Terpentin und Leinöl, oder er bildete es sich ein. Es war Solanges Geruch.
Doch in Wirklichkeit war es Emeline, die am Arm ihres Vaters auf ihn zukam. Jacobs sah noch schlechter aus als das letzte Mal, als Lucian ihn gesehen hatte. Wahrscheinlich stützte er sich auf Emeline, doch er verbarg seine Schwäche gut. Sein dunkelblauer Anzug war ihm viel zu groß und betonte, wie ausgemergelt sein Körper inzwischen war.
Lucians Hand krallte sich um das Glas, sonst hätte er dem Mann den Wodka direkt ins Gesicht geschüttet. Am liebsten würde er ihn direkt hier vor allen Gästen zusammenschlagen, aber er riss sich zusammen. Und Emeline? Er musste sich zwingen, sich nicht einfach von ihr wegzudrehen.
Die beiden hatten die Bar erreicht. Emeline hatte noch nie Solanges Parfüm verwendet, doch jetzt hüllte der Maiglöckchenduft die ganze Bar ein. Warum hatte sie es heute Abend aufgelegt? Wollte sie das Schmierentheater wirklich immer noch weiterspielen?
Das Blut stieg ihr in die Wangen, als sie ihn mit einem Lächeln begrüßte. Sie trug eine cremefarbene, weit geschnittene Seidenhose, dazu eine eng anliegende Bluse aus dem gleichen Material. Ihre Füße steckten in ebenfalls cremefarbenen Ballerinaschuhen mit goldenen Bändern. Die Haare hatte sie straff nach hinten zu einem Nackenknoten gebunden, fast so, als wolle sie, dass man ihre Narbe sehen konnte. In ihren Ohren steckten runde Diamanten, die im rot glühenden Licht des Sonnenuntergangs aufblitzten.
Ganz leicht platzierte sie einen Kuss auf Lucians Wange, der Emelines Vater und jedem, der die Szene sonst beobachtete, vollkommen harmlos
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