Der Visionist
erscheinen musste. Aber der Kuss war alles andere als harmlos, und dazu flüsterte Emeline ihm noch den Satz ins Ohr, mit dem Solange ihn immer begrüßt hatte. „Ich hab dich so sehr vermisst!“
Lucian wollte es nicht, doch sein Blick glitt über die leichte Erhebung ihrer Brüste. Trotz allem, was er inzwischen wusste und trotz des Gefühlschaos in seinem Innern war da immer noch dieses überwältigende Bedürfnis, ihre Haut zu berühren. Er musste sich versichern, dass sie warm war und nicht kalt, dass sie lebte und wirklich vor ihm stand und sich nicht in eine Erinnerung aus der Vergangenheit auflösen würde. Sein Verstand war noch nicht zu seinem Herzen vorgedrungen.
Es war ein Fehler gewesen, heute Abend zu dem Empfang zu kommen. Lucian wusste plötzlich, was in den Menschen vorgegangen war, die er hinter Schloss und Riegel gebracht hatte. Das Museum war nicht der richtige Ort für die Fragen, die er stellen musste, und auch nicht für die Antworten, vor denen er sich fast fürchtete. Er musste weg hier.
„Guten Abend, Lucian“, sagte Jacobs förmlich.
„Guten Abend, Mr Jacobs, hallo, Emeline“, erwiderte Lucian. Seine Stimme klang gepresst. Besonders professionell verhielt er sich hier nicht. „Darf ich Ihnen einen Drink holen?“
Emeline bestellte selbst beim Barkeeper ein Glas Champagner,und Jacobs wollte einen Gin. „Kein Eis“, brummte er, und Lucian bemerkte, wie Emeline zusammenzuckte.
Jacobs versprach ihr fast jeden Tag, mit dem Trinken aufzuhören – doch dieser Vorsatz hielt immer nur bis zum ersten Cocktail des Abends. Der Alkohol brachte ihn um, doch er konnte nicht damit aufhören.
Immer mehr Menschen strömten in den erleuchteten Innenhof aus Stein und Glas, und um sie herum erhob sich eine immer lauter werdende Kulisse aus Gläserklirren und Stimmengewirr. Die Luft war erfüllt von Blumendüften und Parfüms, vermischt mit dem Geruch der Kerzen, die auf den Cocktailtischen verteilt worden waren. In ihrem Schein schimmerten die bunten Satin- und Seidenstoffe, in die die Gäste gehüllt waren. Diamanten glitzerten an Ohrläppchen, an Hälsen und Fingern und strahlten mit den paillettenbesetzten Blazern und mit Perlen verzierten Handtaschen um die Wette.
Die festliche Atmosphäre kam Lucian angesichts der Informationen, die er heute über die beiden Menschen neben ihm erhalten hatte, wie Hohn vor. Am liebsten wäre er auf die Bar gestiegen und hätte gebrüllt, dass sie alle schweigen sollten, aus Respekt vor einem toten Mädchen. Er wollte sich rächen an dem Mann, der für ihren Tod verantwortlich war.
Der Barkeeper hatte gerade Emeline und Andre Jacobs ihre Drinks gereicht, als das Streichquartett zu spielen aufhörte und der Museumsdirektor, Tyler Weil, auf ein niedriges Podium trat, das rechts von der abgetrennten Fläche aufgebaut worden war.
Weil ließ den Blick über die Gäste wandern, dann entdeckte er Marie Grimshaw und winkte ihr zu, sie solle zu ihm auf das Podium kommen. Er nahm das Mikrofon in die Hand und begann mit der Begrüßungsrede.
Emeline nahm Lucians Arm und drückte sich eng an ihn. Mit einem Lächeln schaute sie hoch zu ihm, ihr Gesichtsausdruck war so rätselhaft, dass er sich ihm nicht entziehenkonnte. Sie sah aus, als wolle sie wirklich glücklich sein, doch gleichzeitig schien sie sich hier nicht wohlzufühlen, nicht auf diesem Empfang und nicht in der Rolle, die ihr zugeteilt war und in die sie sich krampfhaft versuchte einzufinden. Lucian zweifelte nicht, dass sie unter der Belastung litt, doch der Grund dafür war ein anderer, als er angenommen hatte. Noch gestern hatte er mit ihr mitgefühlt. Doch heute wusste er, dass alles eine Lüge war.
62. KAPITEL
In Malachais Büro brannte nur die Tischlampe, und Beryls Gesicht lag im Dunkeln. Doch ein Blick auf ihre Faust, die den Stock fest umklammert hielt, und er wusste, was in ihr vorging. Sie hielt den Stock nicht, um sich abzustützen, sondern angriffslustig, als sei er eine Waffe.
„Wie kannst du es wagen, mich auszulachen?“ Die Wut in ihrer Stimme war unüberhörbar.
„Aber was du da sagst, kann doch nur ein Witz sein, oder nicht? Was meinst du denn, was ich Furchtbares vorhabe? Denkst du wirklich, ich würde unsere Patienten hintergehen? Bitte beruhige dich, Beryl! Ich würde nie etwas tun, was den Ruf der Stiftung in Gefahr bringt.“
„Nein? Aber du hast den Ruf der Phoenix Foundation schon einmal gefährdet. Ich kann nicht zulassen, dass du das noch einmal tust. Ich kann nicht
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