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Der Visionist

Der Visionist

Titel: Der Visionist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose M J
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seiner leisen, weichen Stimme hatte in Hypnose versetzen lassen, zudem noch mit ihrer eigenen verdammten Schneekugel. Sie saß an ihrem Schreibtisch und versuchte, die Tragweite ihres Versagens abzuschätzen. Dabei starrte sie auf den Baum, der den direkten Blick hinunter zur Straße versperrte. Es war windig, und ein Ast klopfte immer wieder gegen das Fenster. Iris kam es so vor, als stimme der Baum ihr zu: Was sie getan hatte, war unverzeihlich.
    Sie schloss die Augen und machte eine Übung zur Tiefenentspannung. Fünf Minuten lang zählte sie bis fünf beim Einatmen, hielt den Atem dann fünf Sekunden lang an und zählte dann auch beim Ausatmen wieder bis fünf. Dann hielt sie den Atem wieder an und atmete auf diese Weise immer weiter, bis sie schließlich ruhiger wurde.
    Als sie die Augen wieder öffnete, wusste Iris, was sie tun musste: Sie musste verhindern, dass Malachai Samuels mit den Informationen, die sie ihm gegeben hatte, etwas Illegales tun konnte. Und sie musste James Ryan gestehen, dass sie ohne seine Erlaubnis Informationen über seine Erinnerungen aus früheren Leben weitergegeben hatte.
    Zuerst rief sie ihren Patienten an. Ryans Telefon klingelte dreimal, dann sprang der Anrufbeantworter an. Iris hatte sich gut überlegt, was sie ihm sagen wollte, doch sie wollte die Nachricht nicht auf Band hinterlassen. So hinterließ sie nur ihren Namen und bat ihn, sie bei nächster Gelegenheit zurückzurufen.
    Der nächste Schritt in ihrem Plan war schwieriger. Wie sollte sie Malachai von irgendetwas überzeugen? Was konnte sie zu ihm sagen, damit er aufhörte, sich in den Heilungsprozess ihrer Patienten einzumischen?
    Sie öffnete ihre Bürotür und trat hinaus in den Gang. Zu ihrer Überraschung sah sie Malachai und Beryl, die am anderen Ende beieinanderstanden und sich leise über etwas unterhielten. Sollte sie Malachai zur Rede stellen, wenn Beryl dabei war? Doch bevor sie noch eine Entscheidung treffen konnte, wandte sich Malachai ab und ging in die andere Richtung davon, während Beryl auf Iris zuging. Sollte Iris Malachai nachgehen? Er war schon fast an der Treppe, die hinunter in die unterirdische Bibliothek führte.
    „Ist alles in Ordnung?“, fragte Beryl.
    Falls Malachai die Frage seiner Tante hören konnte, dann reagierte er nicht darauf. Noch ein paar Schritte, dann konnte Iris sicher sein, dass er sich außer Hörweite befand.
    „Iris?“
    „Ja?“
    „Ist etwas passiert?“
    Iris hörte, wie vorne im Gang eine Tür ins Schloss fiel – Malachai war unten in der Bibliothek. Sie nickte. „Ja.“ Das Wort war nur ein Flüstern.

61. KAPITEL
    Lucian schritt die ausladende Marmortreppe des Museums hoch und fühlte sich sofort wieder zu dem Tempel hingezogen. Doch heute Nacht konnte er solchen Gefühlen nicht nachgeben. Als er durch die mittelalterlichen Sammlungen in Richtung des Flügels mit der amerikanischen Kunst ging, verschwendete er nicht einen Blick auf die Ausstellungsstücke in den Räumen. Sonst blieb er zumindest ab und zu vor einem Gemälde oder einer Skulptur stehen. Doch heute Abend würde er mehr als ein Geheimnis lösen, und auch wenn er persönlich darunter litt, war es doch eine Erleichterung, endlich die Wahrheit zu erfahren. Er konnte nur noch harten, kalten Fakten trauen. In den letzten paar Wochen war er eine Spielfigur gewesen. Bei dem Gedanken spannte sich unwillkürlich sein Kiefer an, und seine Dauerkopfschmerzen wurden noch stärker.
    Goldenes Abendlicht durchflutete den Charles Engelhard Court. In dem verglasten Hof direkt am Park standen übergroße Statuen, bleigefasste Fenster und Architekturelemente aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert waren in die Wände eingelassen. Bestimmt an die hundert Gäste hatten sich schon eingefunden und spazierten durch das dreistöckige Atrium, doch der Hof wirkte noch keineswegs überfüllt. Lucian erkannte einige Mitglieder des Museumsvorstands und nickte ihnen zu. Die bedeutendsten Spender des Museums waren anwesend, ebenso die Nachfahren von Familien, die dem Met in der Vergangenheit Gemälde vermacht hatten.
    Im Zentrum des Hofs war eine Fläche abgesperrt, die hinter einer drei Meter hohen blickdichten Abschirmung verborgen war. Dahinter fand Lucian Marie Grimshaw, die fünf leere Staffeleien hin- und herschob. Bei seinem Anblick glitt ein gequältes Lächeln über ihr Gesicht. Er hatte plötzlich das Gefühl, als müsse er sich bei ihr entschuldigen – aber für was?Alles war genauso gekommen, wie sie und Tyler Weil es

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