Der Visionist
Stifte, Feilen, Raspeln, Radierplatten, aufgerollte Leinwand und Kästen mit Bruchstücken aus Holz, Glas und Stein.
„Charlie, wissen Sie eigentlich viel über Mythologie?“
„Ich bin Restaurator, nicht Historiker“, erwiderte er, doch sie ging auf seinen Scherz nicht ein.
„Hypnos wurde der ‚Beherrscher der Götter‘ genannt, weil er jeden in Schlaf versetzen konnte. Der Gott des Todes, Thanatos, war sein Bruder. Nyx, die Göttin der Nacht, war seine Mutter und Morpheus, der Gott der Träume, sein Bruder. Was für eine Familie, nicht wahr? Hypnos lebte im Land der ewigen Finsternis, ganz in der Nähe der Tore der aufgehenden Sonne. Das Land wurde Erebos genannt. Plutarch sagt, Hypnos’ Aufgabe sei es, die Menschen zu besänftigen und ihren Seelen …“ Sie brachte den Satz nicht zu Ende, und ihr letztes Wort – Seelen – klang in der Werkstatt nach.
Danzinger wusste nicht recht, was er zu ihrem Monolog sagen sollte, und schwieg.
„Glauben Sie, dass wir Seelen besitzen?“, fragte sie schließlich.
Er räusperte sich. „Ja.“ Kurz dachte er über seine spontane Antwort nach und relativierte sie dann. „Ja, anscheinend glaube ich das.“
„Sie scheinen selbst überrascht zu sein.“
„Ich bin katholisch erzogen worden und habe das alles eigentlich hinter mir gelassen.“ Er konzentrierte sich auf die Statue und trug vorsichtig ein weiteres Stück Blattgold auf. Während er mit dem Pinsel eine Unebenheit glättete, fuhr er fort: „Aber bei der Arbeit an diesen wertvollen Kunstwerken ist mir eins klar geworden: Ein Stück von der Seele des Künstlers fließt in jedes Werk ein, und das ist es, was ich in Wirklichkeit erhalte und restauriere. Zumindest glaube ich das.“ Er schaute vom Hypnos hoch zu Marie und sah, dass ihr Tränen in den Augen standen. Sie war eine unglaublich starke Frau und für das Museum ebenso wertvoll wie eines der Kunstwerke. Nie hätte er gedacht, dass er sie einmal weinen sehen würde.
„Was ist denn los?“ Er sprach leise und wünschte sich, dass sie sich ihm anvertraute, auch wenn sie ihn immer noch ein wenig einschüchterte. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
„Ein wichtiges Gemälde, das dem Museum vor Jahren vermacht wurde, ist uns heute Morgen zugeschickt worden.“
„Aber das ist doch wunderbar. Oder nicht?“
„Das Bild wurde vollkommen zerstört.“
„Wo durch?“
„Jemand hat es zerschnitten … mit einem Messer.“ Die letzten Worte flüsterte sie, als ob sie so etwas Entsetzliches nicht laut sagen könnte.
Danzinger fuhr auf. „Es kann nicht wieder restauriert werden?“
„Ihre Abteilung wird ein Gutachten darüber erstellen.“
„Was meinen Sie?“
Eine Träne rann über ihre Wange, aber sie schien es nicht zu bemerken. „Selbst wenn ein Restaurator das Bild wieder zusammenflickt, wird es nie mehr so sein wie es war.“
„Warum tut jemand so etwas?“
„Um uns zu beweisen, dass er es wieder tun kann.“ Ihre Stimme zitterte vor Wut. „Der Kerl, der das getan hat, behauptet,er habe noch vier gleichwertige Gemälde. Sie alle sind dem Museum hinterlassen worden, aber sie wurden gestohlen, bevor sie in unseren Besitz kamen. Es ist Erpressung. Er hat angekündigt, dass er jede Woche ein weiteres Bild zerstören wird, wenn wir ihm nicht geben, was er will.“
„Und was will er?“
Marie Grimshaw wollte es ihm gerade sagen, als die Tür aufging. Tyler Weil trat in die Werkstatt, gefolgt von einem Mann, den Danzinger nicht kannte.
Dass der Museumsdirektor ihn aufsuchte, passierte selten genug, aber dann stellte Weil ihm auch noch den FBI-Agenten Lucian Glass vor. Danzinger reichte dem Mann zur Begrüßung die Hand und hoffte, dass sie nicht feucht war vor Schweiß.
„Mr Danzinger, können Sie bitte Agent Glass erklären, an was Sie gerade arbeiten und welche Fortschritte die Restaurierung macht?“
„Sicher“, nickte er erleichtert. Über seine Arbeit zu reden hatte ihm noch nie Schwierigkeiten gemacht.
Sie traten alle in die Mitte der Werkstatt, wo zwei riesige Statuen standen, die den Raum beherrschten. Sie waren beide zweieinhalb Meter hoch, hatten die gleiche Form und stellten denselben Gott dar, ihr Zustand allerdings war sehr unterschiedlich. Die rechte, an der Danzinger gerade gearbeitet hatte, war die Statue des antiken griechischen Gottes Hypnos. Das Gesicht war jung und wohlgeformt, mit gefühlvollen Augen, sinnlichen Lippen und einer fein gearbeiteten Nase. Die Züge waren elegant, der Gesichtsausdruck entspannt
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