Der Visionist
er an der Tür seines Bosses und lauschte, ob draußen etwas zu hören war. Außer den Geräuschen von der Straße und dem Summen des Kopierers war nichts zu hören. Er wollte schon fast gehen, da fielen ihm die Papiere ein, seine Entschuldigung, falls er erwischt wurde. Ich wollte nur die hier schnell vorbeibringen , würde er sagen. Und wenn Taghinia ihn nach der verschlossenen Tür fragte, würde er behaupten, sie sei offen gewesen. Er hatte die Sätze ein Dutzend Mal daheim vor dem Spiegel geprobt. Ich hatte keine Ahnung, dass du die Tür nachts abschließt, Farid. Warum das denn?
In seinem Büro holte Samimi die Aufnahmen des Tages aus dem Geheimversteck, das er in sein Bücherregal eingebaut hatte. Dann verließ er das Gebäude der Ständigen Vertretung und ging heim.
Eine Stunde später saß er mit einem Glas Scotch in der Hand am Küchentresen und hörte sich die Aufnahmen an. Sein kleines Apartment in Queens war mit modernen Designermöbeln eingerichtet. Nirgends war auch nur ein einziger Perserteppich zu sehen. Er hatte schon den halben Scotch intus, doch bis jetzt war nichts von Bedeutung in den Telefonaten aufgetaucht. Kein Gespräch bezog sich auf die Rettung des Hypnos.
Seit Vartan Reza die Fälschung entdeckt hatte, waren die Pläne ziemlich rasant vorangetrieben worden. Die Möglichkeit, dass die Statue tatsächlich eine legendäre Karte war, mit der man die Kräfte des Unbewussten freisetzen konnte, ließsich nicht mehr von der Hand weisen. War Hypnos am Anfang noch ein Symbol der Macht gewesen, so war er jetzt unendlich viel wertvoller als ein bloßes historisches Artefakt. Samimis Landsleute waren vorher schon entschlossen gewesen, die Statue wieder in ihren Besitz zu bringen – jetzt waren sie geradezu fanatisch. So etwas durfte nur dem Iran gehören. Niemand sonst sollte dieser Macht auf die Spur kommen. Hypnos musste zurück in seine Heimat, wo sie ihn erforschen konnten.
Samimi hatte gute Gründe, überaus vorsichtig vorzugehen. Letzten Freitag hatte er eine sehr teure Versicherung abgeschlossen.
Ganz wie Taghinia es ihm befohlen hatte, war er mit einem grauen Mercedes nach Lake Placid gefahren. Allerdings war das nicht der Wagen, der für den Mord an Vartan Reza benutzt worden war. Diesen Wagen hatte Samimi in einer angemieteten Garage in der Bronx abgestellt und hatte einen Ersatzwagen zu der Werkstatt gefahren. Der Mercedes hatte ihn die Hälfte seiner Ersparnisse gekostet, doch das war kein zu hoher Preis dafür, dass er einen Beweis hatte, mit dem die Polizei Taghinia des Totschlags mit Fahrerflucht überführen konnte.
Allerdings wusste Samimi nicht, was er mit diesem Beweis anfangen sollte. Er traute sich nicht, den Behörden Bescheid zu sagen. Aber er hatte ein Schreiben aufgesetzt, in dem er erklärte, was er getan hatte. Das Schreiben steckte zusammengefaltet hinter den Kreditkarten in seiner Brieftasche. Falls ihm etwas zustieß, würde irgendjemand es sicher finden.
„Vielen Dank für die amerikanischen DVDs, Farid. Meine Jungs waren nicht mehr vom Fernseher wegzukriegen“, sagte Nassir gerade in einem Telefonat, das sie heute geführt hatten. „Dieser junge Schauspieler – wie heißt er noch mal? Jon Heder. Ziemlich lustiger Vogel.“
Das war es. Der Minister, der Stratege hinter dem Plan, denHypnos zurück in den Iran zu holen, unterhielt sich in dem Geheimcode mit Taghinia. Samimi griff nach Bleistift und Notizblock und schrieb jedes Wort mit, das die beiden Männer in den nächsten vier Minuten austauschten. Dann war das Gespräch zu Ende, und Samimi puzzelte eine halbe Stunde lang an der Übersetzung. Als er endlich alles dechiffriert und verstanden hatte, brauchte er noch einen Drink.
Im Geheimcode hatte Nassir Taghinia mitgeteilt, dass er eine Lieferung von drei Kilo Semtex zur Ständigen Vertretung arrangiert habe. Semtex war ein von den Tschechen entwickelter Plastiksprengstoff. Nassir hatte auf Semtex bestanden, das vor 1991 hergestellt worden war, denn es enthielt noch keine der handelsüblichen Chemikalien und war deshalb praktisch nicht aufzuspüren. Der Sprengstoff sollte in einem Diplomatenkoffer in den USA ankommen und direkt zu einer Lagerhalle gebracht werden, die die Ständige Vertretung auf der Westseite von Manhattan angemietet hatte. Es sei mehr als genug Sprengstoff, hatte Nassir in dem Telefonat gesagt, um ein Steingebäude mit fünf Stockwerken in die Luft zu jagen.
Hypnos befand sich im Metropolitan Museum of Art. Das Museum war aus Stein
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