Der Visionist
und abgeklärt … ganz so, als gleite er soeben selbst in einen Traum.
Der Gott nahm eine sitzende Position ein und stützte sich mit einer lässigen Haltung auf einem Arm ab. Die Augen bestanden aus Obsidianscheiben, die zum Teil mit Elfenbein überdeckt waren. Moosgrüner Chalzedon war in der Mitte eingelegt, um sie lebensecht wirken zu lassen.
Der Thron, auf dem er saß, war ein hohles Innengerüst, das wie die Statue selbst aus einem insektenabweisenden, fäulnisresistenten Holz gebaut war. Seine Tunika war vergoldet und reich verziert, und in der linken Hand hielt er ein silbernes Horn, das der Legende nach mit einschläferndem Opium gefüllt war. Mit der Rechten umfasste er einen tropfnassen Bronzezweig. Das Wasser wurde durch einen Lapislazuli-Tropfen symbolisiert, von Lethe, dem Fluss des Vergessens.
In den Rücken der Statue war eine knapp einen Meter breite und etwa eins zwanzig Meter hohe Holzpaneele eingelassen, die sich wie eine Tür öffnen ließ. Sie gewährte einen Blick auf die Eingeweide und das Skelett der Skulptur. Einmal war Danzinger von einer Besprechung zurückgekommen und hatte Marie überrascht, die mit ausgestreckten Armen im Innern des Hypnos stand. Mit den Fingerspitzen war sie über die innere Haut des Gottes gefahren und hatte wie in Trance nach oben in seinen hohlen Körper gestarrt. Danzinger hatte dreimal ihren Namen rufen müssen, dann erst hatte sie reagiert. Sie schien ihm verlegen, als ob er sie beim Schlafwandeln erwischt hätte. Ein paarmal während der letzten sechs Monate hatte er selbst im Innern der Statue gestanden, doch ihm war nichts aufgefallen, das erklärte, was sie so brennend interessierte.
Links daneben saß die zweite, identische Version der Statue. Ihr Zustand war viel schlechter. Dieser Hypnos war bei Weitem nicht so prächtig. Dies war das zweitausend Jahre alte Original, und man sah ihm sein Alter an. Die Statue war uralt und verwittert, schwer beschädigt und ausgebleicht. Einer der silbernen Flügel fehlte, ebenso beide Hände. Der rechte Fuß war verschwunden, dem linken waren noch zwei Zehen geblieben. Die Goldauflage der Tunika war längst abgerieben. Das eine Auge war intakt, das andere jedoch blind; sowohl die grüne Iris wie die weiße Augenhaut waren abhandengekommen. Der Torso der Skulptur war überall lädiert.
Das Museum wollte die fast fertige linke Statue ausstellen, um den Besuchern einen Eindruck davon zu vermitteln, wie die Statue direkt nach ihrer Erschaffung ausgesehen hatte. Verglichen mit der Kopie war das Original unscheinbar.
In den nächsten zehn Minuten beschrieb der Restaurator, wie er Abdrücke des Originals gemacht hatte, dann die Gussformen mit einem Holzverbundmaterial gefüllt hatte, das er mit Werkzeugen ziselierte, damit es handgeschnitzt wirkte. Andere Teile der Figur hatte er mit einem Kunststoff gefüllt, der wie Elfenbein aussah. Er ging die einzelnen Arbeitsschritte durch, vom Bemalen der Skulptur zum Vergolden und schließlich zum Aufsetzen der Schmucksteine.
Der Agent schrieb mit und zeichnete Skizzen in ein kleines schwarzes Notizbuch, wie es nach Danzingers Erfahrungen normalerweise Künstler benutzten.
„Ist der Goldüberzug des Originals aus dünnen Plättchen oder aus Blattgold?“
„Blattgold“, antwortete Danzinger. Da war er sich hundertprozentig sicher.
„Was ist mit dem Silberüberzug?“
„Der besteht aus extrem dünnen Silberplättchen.“
„Die Steine? Was sind es für Steine? Wie viel sind sie wert?“
„Bei den meisten handelt es sich um Halbedelsteine, aber es sind auch einige Smaragde, Rubine und Amethyste darunter. Ansonsten haben wir hier Lapislazuli, Bernstein, Granat, Karneol, gebänderten Achat, Sardonyx, Chalzedon und Bergkristall. Alle von mittelmäßiger Qualität.“
Der FBI-Agent wandte sich an den Direktor. „Wie hoch schätzen Sie den Wert der Statue?“
„Keine der noch existierenden chryselephantinen Statuen ist so vollständig erhalten wie diese … Ich denke, wir würden fünf bis sechs Millionen für sie bekommen.“
„Aber verglichen mit dem Wert eines echten Matisse, Monet oder Van Gogh ist das eine geringe Summe, nicht?“
„Ja“, mischte Marie Grimshaw sich ein, bevor der Museumsdirektor antworten konnte. „Der Wert der Gemälde ist unendlich viel höher.“
„Womit wir wieder bei der Frage sind, bei der wir Ihnen auch nicht weiterhelfen können, Agent Glass“, sagte Weil. „Warum will jemand Gemälde im Wert von über einhundertfünfzig Millionen
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