Der Visionist
Verdächtigen ermittelte.
„Sie treten in den See hinein … Sie gleiten in das Wasser. Die Wärme umfängt Sie. Es fühlt sich wunderbar an.“
Und es war wirklich himmlisch, aber er konnte sich diesen Luxus im Moment nicht gönnen.
„Das Wasser ist warm, es trägt Sie. Sie liegen jetzt auf dem Rücken … treiben auf dem Wasser. Die Wärme nimmt alle Ihre Sorgen. Das Wasser tropft von den Steinen in den See und nimmt Ihre Sorgen mit. Sie liegen völlig entspannt und bequem … Es gibt keine Sorgen, keinen Stress … Niemand will etwas von Ihnen … Sie sind im Reinen mit sich und der Welt … Schauen Sie nun langsam nach oben, zur Decke über dem unterirdischen See. Da ist ein Spiegel, und Sie können sich selbst darin sehen, wie Sie auf dem Wasser treiben. Sie sehen, wie entspannt Sie sind. Sie fühlen, wie die Spannung sich löst … in jedem Teil Ihres Körpers … in Ihren Füßen … Ihren Knöcheln … Unterschenkeln … Knien … Hüften … Ihre Schultern und Ihr Nacken sind entspannt … Ihre Hände … Ihre Arme … Ihr Zwerchfell … Sie sind vollkommen entspannt.“
In den nächsten fünfzehn Sekunden konzentrierte sich Iris auf die Atemzüge von James Ryan, die immer regelmäßiger wurden und verrieten, wie sein Körper sich nach und nach vollkommen entspannte. Sie stellte sich vor, wie er durch die Zeitebenen in die Vergangenheit glitt. Manche Menschen hatten Angst vor Hypnose; sie wollten nicht von einer Fremden beeinflusst werden, die sie womöglich dazu brachte, Dinge gegen ihren Willen zu tun. Aber Hypnose war weder Magie noch Gedankenkontrolle. Unter Hypnose hatte man eine so enge Verbindung zum innersten Selbst wie sonst nie. Iris wusste das aus eigener Erfahrung. Vor zwei Jahren hatte sie in einer Psychiatrie gearbeitet. Einer ihrer Patienten, der nie zuvor gewalttätig geworden war, hatte sie angegriffen und versucht, sie zu vergewaltigen. Ein Wärter hatte das Schlimmsteverhindern können. Doch Iris konnte das traumatische Erlebnis nicht überwinden und begann eine Therapie. Die Psychologin wandte Hypnose an, um sie von ihren schlimmsten Ängsten zu befreien. Während einer Sitzung stolperte Iris mehr zufällig in eine Erinnerung aus einem ihrer früheren Leben. Die außerordentlich intensive Erfahrung verängstigte und verunsicherte sie zwar, doch ihr Interesse war geweckt. Sie wandte sich an Dr. Beryl Talmage, um mehr zu erfahren. So kam Iris zur Phoenix Foundation und wurde die erste Therapeutin in der Geschichte der Stiftung, die Vollzeit mit Erwachsenen arbeitete.
„Das Wasser, das Sie umgibt und trägt, ist die Zeit. Sie treiben leicht dahin, ohne jede Anstrengung. Sie können sich an Dinge erinnern, die Sie längst vergessen hatten. Sie können sie deutlich vor Ihrem geistigen Auge sehen. Ich möchte, dass Sie sich an etwas erinnern, was Ihnen als kleiner Junge passiert ist … an eine schöne Erinnerung, etwas, das Sie glücklich gemacht hat.“
Sie sah den ersten Anflug eines Lächelns in seinem Gesicht. „Erzähl mir, an was du dich erinnerst. Wo bist du?“
„Im Buchladen. Ich bin zusammen mit meiner Mutter im Buchladen.“
„Wie alt bist du?“
„Neun.“
„Gefällt es dir im Buchladen?“
„Ja. Meine Mutter hat gesagt, ich darf mir so viele Bücher aussuchen, wie ich will.“
„Das ist toll. Da freust du dich doch bestimmt riesig.“
Er nickte so heftig, dass ihm eine Haarsträhne in die Augen fiel, aber er bemerkte es nicht.
Iris war eine erfahrene Psychologin, trotzdem erstaunte es sie immer wieder, wenn jemand unter Hypnose in die Vergangenheit glitt und sich an frühere Ereignisse so deutlich erinnerte, als würden sie eben erst geschehen. Es war unglaublich,wie viele Erinnerungen das menschliche Gehirn gespeichert hatte und wie selbst die kleinsten Details unter den richtigen Umständen wieder hochgeholt werden konnten.
„Wie viele Bücher wirst du dir denn aussuchen?“
„Bis jetzt habe ich erst eins – Der geheime Garten .“
Iris ließ Ryan noch ein paar Momente im Glücksgefühl der Kindheitserinnerung verharren. Sie wollte ihn langsam von einer Altersstufe zur nächsten führen, damit der Übergang von der Vergangenheit seines jetzigen Lebens in eine tiefere Vergangenheit, in ein Leben vor diesem, fließend vor sich ging. Schritt für Schritt führte sie ihn zurück in eine Erinnerung, als er noch jünger gewesen war, dann ein Kleinkind und schließlich ein Baby.
„Jetzt möchte ich, dass Sie an eine andere Zeit denken, an eine Zeit,
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